Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 822

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4. Der Adel, das Bürgertum und das Volk im Posenschen

Als die Sozialdemokraten in Posen als erste für den polnischen Religionsunterricht eintraten, den Herr Studt aufgehoben hatte, und eine große Volksversammlung einberiefen, auf der sie das ganze arbeitende Volk zum Verteidigungskampf aufriefen, was taten da die anderen Parteien unserer Gesellschaft? Unsere „Creme der Nation“, der Adel, der Gutsbesitzerstand ließen sich nicht einmal hören. Sie, die immer und überall die Führer, der Kopf der Nation heißen, die angeblich die nationalen Interessen wahrnehmen, die ihren Patriotismus immer und überall laut verkünden – wo waren sie, wo sind sie, wenn das Volk, wenn seine Muttersprache verteidigt werden muß? Sie sind nicht da! Wenn Abgeordnetenmandate zum Parlament oder zum Landtag zu raffen sind, dann sind alle die Kwilecki, Chłapowski, Czartoryski, Radziwiłł, Kościelski wie gerufen da und halten „bürgerliche“ und „patriotische“ Reden. Die Repräsentation in der Hauptstadt, in Berlin – das lassen sie sich gefallen! Aber wo bleibt der ganze Vorrat an „bürgerlichem Bewußtsein“ und „Patriotismus“, wenn diese Herren, gewählt mit den Stimmen des Volkes, in den Abgeordnetensesseln im Parlament Platz nehmen? Was haben sie bisher durch ihre Abgeordnetentätigkeit Gutes für das polnische Volk getan? Rein gar nichts! Im Parlament und im Landtag sitzen diese unsere polnischen Abgeordneten wie ägyptische Mumien; weder Macht noch Einfluß, noch Ansehen vermochten sie zu erlangen. Wenn das ganze Jahr über im Parlament zwischen den Abgeordneten der verschiedenen Parteien ein verbissener Kampf um die Lebensfragen des Volkes geführt wird, um Schutzgesetze für Fabrikarbeiter und für Handwerker, um Bürgerrechte für Bauernknechte, um Getreide- und Fleischzölle, dann ist von unseren polnischen Abgeordneten nichts zu hören und nichts zu sehen. Wenn das Volk vor Teuerung, vor Steuern, vor der Regierungsbedrückung in Schutz genommen werden muß, da erstarrt unseren Czarliński, Radziwiłł und Kwilecki die Zunge. Einmal im Jahr piepsen sie ein paar Worte gegen die Germanisierung, aber auch das tun sie saft- und kraftlos, ohne Salz und Pfeffer, so daß sich die Minister nicht einmal nach ihnen umsehen. Völlig anders treten die sozialdemokratischen Abgeordneten zur Verteidigung des Polentums auf, obwohl es bisher keinen einzigen Polen unter ihnen gibt. Sie haben es seinerzeit durch ihren Einfluß vollbracht, daß jemand, der im Gericht erklärt, er beherrsche die deutsche Sprache nicht genügend, einen amtlichen Dolmetscher erhalten muß. Alljährlich werfen sie der Regierung vor, daß die Kinder in Oberschlesien keine Schulen haben!

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