Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 619

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Zu dem französischen Einigungskongreß

Leipzig, 27. November

Der Einigungskongreß der französischen Sozialisten[1], auf den die Blicke der gesamten internationalen Sozialdemokratie gerichtet sind, tritt unter wesentlich anderen politischen Verhältnissen zusammen, als er einberufen war. Mit der äußeren und formellen Lösung der Dreyfus-Affäre[2] und mit der Unschädlichmachung der Hauptführer des Nationalismus[3] hat die Krise, die Frankreich während der letzten Jahre erschütterte, wenigstens vorläufig einen Abschluß gefunden. Damit tritt aber auch die innere Krise des französischen Sozialismus in eine neue Phase.

Die nächste Ursache dieser Krise war bekanntlich das verschiedene Verhalten der sozialistischen Fraktionen zu der Dreyfus-Affäre und zum Eintritt Millerands in die Regierung[4]. Nun ist aber die Krise vorbei und das „Ministerium der Rettung“ mit der Wiedereröffnung der Kammern zum gewöhnlichen Ministerium der bürgerlichen Republik geworden. Damit treten die Rücksichten auf die augenblickliche politische Lage, die eine Allianz zwischen einer Gruppe der Sozialisten und den bürgerlichen Elementen herbeigeführt hatte, wieder zurück, und die grundsätzlich oppositionelle Stellung der Sozialisten einer bürgerlichen Regierung gegenüber, eine Stellung, die den beiden sich befehdenden sozialistischen Gruppen gemein ist, tritt in den Vordergrund.

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[1] Am 3. Dezember 1899 begann im Pariser Gymnasium Japy ein allgemeiner Kongreß aller sozialistischen Gruppen Frankreichs, der über die Beteiligung sozialdemokratischer Minister an bürgerlichen Regierungen beriet. Der Kongreß verurteilte den Ministerialismus, ließ aber gegen die Stimmen der Guesdisten Ausnahmeregelungen zu. Die einzelnen Gruppen einigten sich über bestimmte Maßnahmen, die zukünftige gemeinsame Aktionen ermöglichen sollten.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

[3] Im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre provozierten chauvinistische, antisemitische und klerikale Kreise, die eine Revision des Verfahrens ablehnten, Zusammenstöße und Umsturzversuche. Führende Vertreter der Putschisten wurden verhaftet.

[4] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.