Zur Etatsdebatte
Leipzig, 8. Dezember
Die Etatsreden unserer Fraktion decken in der Regel so ziemlich alle Übelstände des öffentlichen Lebens auf, sie geißeln alle Vergehen und Unterlassungen der Regierung. Nur ein Winkel der politischen Bühne in Deutschland blieb bis jetzt von unseren Etatsrednern unberührt – es ist dies die Polenpolitik der Regierung.
Auch die deutsche Parteipresse verzeichnet häufig Fälle der nationalen Vergewaltigung der Polen durch die Behörden, Fälle der kleinlichen, gehässigen Brutalität den Polen gegenüber, die jeden nicht gerade zum Hakatistenverein[1] gehörigen, halbwegs anständigen Menschen empören müssen. Allein von Empörung bekommt man in diesen Fällen in den bürgerlichen Kreisen sehr wenig zu sehen. Sogar die freisinnigen, die liberalen Blätter beschränken sich meistens darauf, die auffälligen Erscheinungen der Germanisationspolitik zu verzeichnen, und der Brustton der edlen Entrüstung, den sie sogar bei den Köller-Ausweisungen gegen die dänischen Milchmädchen[2] gefunden haben, bleibt ihnen angesichts der tagtäglichen Brutalisierung der deutschen Bürger polnischer Nationalität in der freisinnigen Brust stecken. Politiker, die ein Verständnis und ein Wort des Protestes diesem Gebaren gegenüber finden, wie Delbrück, sind
[1] Gemeint ist der 1894 gegründete Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken, ab 1899 Deutscher Ostmarkenverein, nach den Anfangsbuchstaben seiner Gründer, Ferdinand von Hansemann, Hermann Kennemann und Heinrich von Tiedemann-Seeheim, auch Hakatistenverein genannt. Er vertrat eine rücksichtslose wirtschaftliche und politische Unterdrückungspolitik gegenüber den Polen in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und strebte die territoriale Expansion nach dem Osten an.
[2] Ende 1898 waren auf Veranlassung des Oberpräsidenten Schleswig-Holsteins, Ernst von Köller, Dienstboten dänischer Nationalität aus Deutschland ausgewiesen worden.