Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 645

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heute weiße Raben, und die eisige Kälte, mit der die Klagen der Czarliński u. Co.[1] im Reichstag aufgenommen zu werden pflegen, ist ein sprechendes Symptom der Stimmung der bürgerlichen Öffentlichkeit in der Polenfrage. Das deutsche Bürgertum sticht in dieser Beziehung löblich sogar von dem russischen ab, da in Rußland nur entweder direkt gegen festes Gehalt an die Reaktion verdungene oder freiwillig reaktionäre Blätter verächtlichster Gattung, wie die „Moskowskije Wedomosti“, der Polenhetze der Zarenregierung Beifall klatschen, alle liberalen Elemente dagegen für diese Hetze sogar unter der russischen Zensur nur Worte der Verdammung finden.

Der deutsche Philister unterstützt durch sein Schweigen oder durch die Tat die nationalen Brutalitäten der Regierung aus Feigheit und Lakaiensinn, aus selbstsüchtiger Gleichgültigkeit für alles, was nicht die liebe eigene Haut berührt. Um so mehr Grund für uns Sozialdemokraten, gegen diese Politik mit aller Energie zu protestieren. Allerdings liegt es durchaus nicht in unserem Interesse, die polnische Arbeiterschaft in nationaler Richtung aufzuhetzen oder nationale Sonderbestrebungen, wie sie ja leider auch unter den polnischen Genossen mehrmals zum Ausdruck gekommen sind, zu unterstützen. Im Gegenteil, das wohlverstandene Interesse sowohl der deutschen wie der polnischen Arbeiterschaft erfordert das Hinarbeiten auf ein völlig solidarisches Zusammengehen auf dem Boden desselben Programms und derselben Taktik. In unserem Interesse liegt vielmehr bei der Agitation unter den polnischen Arbeitern die Hervorhebung des Klassenmoments und nicht des nationalen Moments. Benutzen doch gerade die polnischen kleinbürgerlichen „Volksparteiler“, die „Polen“ und das polnische Zentrum die nationale Frage dazu, um der Arbeiterschaft ihr Klassenbewußtsein zu verdunkeln.

Allein gerade das Interesse der Zusammengehörigkeit der deutschen und der polnischen Arbeiterschaft wird am wirksamsten dadurch gefördert, daß die deutsche Sozialdemokratie alle Interessen der polnischen Proletarier, auch die nationalen, das heißt mit anderen Worten: die Kulturinteressen, verteidigt. Je mehr die Agitation in den Bezirken mit überwiegend oder starker polnischer Bevölkerung, wie in Oberschlesien, in Westfalen, in Schwung kommt – und das muß sie, soll anders die Parteientwicklung und auch die gewerkschaftliche Bewegung nicht empfindlichen Schaden leiden –, um so mehr wird die mündliche und schriftliche Verbreitung unserer Grundsätze in polnischer Sprache vor sich gehen müssen

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[1] Gemeint sind die Vertreter der zum Deutschen Reich gehörenden polnischen Gebiete im Reichstag. die sogenannte Polen-Fraktion.