Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 811

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Deutsche – Bauern und Handwerker – gewaltsam auf polnischen Boden zu verpflanzen, und all das mit einer Hartnäckigkeit und Ausdauer, die einer besseren Sache würdig wären.

Was wollen sie dadurch erreichen? Es ist klar: Die polnische Sprache, die polnische Nationalität sollen in Preußen verschwinden, drei Millionen des polnischen Volkes sollen vergessen, daß sie als Polen geboren wurden, und sich in Deutsche verwandeln! Die Kinder sollen die Sprache ihrer Väter und Mütter vergessen, die Enkel sollen vergessen, daß ihre Großväter einst auf polnischem Boden lebten!

Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man diese Versuche bedenkt, und die Faust ballt sich aus Verzweiflung, daß derartige Dinge am hellichten Tage vor den Augen des gesamten Europas und der ganzen zivilisierten Welt seit Jahrzehnten geschehen, und keiner der Mächtigen läßt sich vernehmen, niemand drängt die germanisierende Übermacht zurück; die Hakatisten[1] spotten nur unserer Ohnmacht und führen in größter Ruhe ihr Werk der Entwurzelung des Polentums weiter, als täten sie das ehrbarste und rechtmäßigste Werk der Welt. Es ist also ein Verbrechen, in der eigenen Sprache zu sprechen, die man mit der Muttermilch eingesogen hat, es ist also ein Vergehen, einem Volke anzugehören, in dem man zur Welt gekommen ist.

Wahrlich, es ist höchste Zeit, daß das polnische Volk seine Leblosigkeit abschüttelt, daß es seiner Empörung Ausdruck gibt, daß es sich zum Kampf gegen die Germanisierung erhebt. Auf welche Weise ist dieser Kampf zu führen, auf welchem Wege ist die Verteidigung der polnischen Nationalität am wirksamsten zu erreichen – das sind Fragen, über die es ernstlich nachzudenken verlohnt.

2. Wessen Schuld?

Vor allem, wer sind die wahren Schuldigen dieser Unterdrückung, die die Polen in Preußen erleiden müssen? Wen sollen wir für diese Germanisierungsgewalttaten verantwortlich machen? Gewöhnlich sagt man: Der Deutsche ist schuld, die Deutschen unterdrücken uns. So schreiben immer unsere polnischen Zeitungen im Posenschen. Aber ist es denn möglich, die Schuld auf das ganze deutsche Volk zu schieben, auf die ganzen 50 Millionen Deutsche? Das wäre eine große Ungerechtigkeit, und das wäre vor allem ein grober Fehler, durch den wir selbst am meisten zu leiden hätten. Sich die

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[1] Gemeint ist der 1894 gegründete Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken, ab 1899 Deutscher Ostmarkenverein, nach den Anfangsbuchstaben seiner Gründer, Ferdinand von Hansemann, Hermann Kennemann und Heinrich von Tiedemann-Seeheim, auch Hakatistenverein genannt. Er vertrat eine rücksichtslose wirtschaftliche und politische Unterdrückungspolitik gegenüber den Polen in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und strebte die territoriale Expansion nach dem Osten an.