Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 812

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Sache deutlich vorzustellen, wo die eigentliche Ursache unserer Unterdrückung liegt, ist unbedingt notwendig, wenn wir uns ernsthaft und erfolgreich an die Verteidigung unserer bedrohten Nationalität machen wollen.

Es ist sonnenklar, daß vor allem die preußische Regierung der Urheber der Germanisierung ist. Sie ist es, die eigenhändig seit Jahrzehnten eine Unterdrückungspolitik gegenüber den Polen führt. Die preußischen Kultusminister geben eine Verordnung nach der anderen heraus, die die polnische Sprache aus den Schulen verdrängen, die preußischen Innenminister befehlen der Polizei, polnische Volksversammlungen in Oberschlesien und in anderen Provinzen aufzulösen, die preußischen Präsidenten und Landräte erfinden auf eigene Faust Dutzende von Methoden, um die polnische Bevölkerung zu schikanieren und zu reizen. Hinter der preußischen Regierung aber steht wie eine Mauer die Regierung des Deutschen Reiches, deren Kanzler zugleich preußischer Ministerpräsident ist, so daß zwischen der gesamtdeutschen und der preußischen Regierung gewöhnlich die vorzüglichste Harmonie herrscht, insbesondere, wenn es sich um die Verfolgung der Polen handelt.

Aber die Regierungsbehörden wären, obwohl sie gewaltige Mittel in ihren Händen haben, völlig machtlos, wenn ihnen einflußreiche Schichten der deutschen Gesellschaft Widerstand leisten würden. Gegen den ausdrücklichen Willen dieser Kreise würde es die deutsche Regierung und noch weniger die preußische niemals wagen, die Polen mit einer derartigen Verbissenheit zu verfolgen. Keine Regierung ist imstande, sich lange zu halten, wenn die ganze Gesellschaft aufrichtig und energisch ihre Politik verurteilt. Die Germanisierungspolitik der Regierungsstellen muß also in gewissen Schichten des deutschen Volkes sicher Unterstützung finden und findet sie auch wirklich. Wir kennen doch jene Herren Hakatisten gut, die die öffentliche Meinung auf die Polen hetzen wie den Hund auf den Hasen, die ungebeten, aus eigenem bösen Willen spezielle Vereine zur Ausrottung des Polentums gründen. Diese entschiedensten Aufwiegler zur Germanisierung gehören größtenteils der Klasse der deutschen Gutsbesitzer und Fabrikanten an. Es ist auch wahr, daß sich nur eine kleine Handvoll der deutschen Gutsbesitzer und Industriellen unter die schändliche Fahne des Hakatismus gestellt hat. Aber wie verhalten sich wohl die breitesten Schichten angesichts der Übergriffe des Hakatismus und der Germanisierungsverordnungen der Regierung? Protestieren sie, sind sie empört, suchen sie diese Politik zu verhindern? Die beste Antwort gibt ein Blick in die deutsche Presse und auf das Verhalten der verschiedenen Parteien im deutschen Reichstag und im preußischen Landtag.

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