Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 682

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Bismarcks Sünden

[1]

Leipzig, 5. Februar

Der Weltmachtkoller, der gewisse Kreise in Deutschland ergriffen hat, begnügt sich nicht mehr mit tollen Zukunftsphantasien, worin Deutschland als erste Kolonial- und Seemacht England ebenbürtig an der Seite oder gar auf dessen Trümmern steht. Sein Blick richtet sich jetzt prüfend auf die Vergangenheit, und diese erscheint vom Standpunkte des Kolonialfiebers als eine einzige große Unterlassungssünde. An der heutigen Flottenvorlage[2] ist nur auszusetzen – daß sie nicht schon vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren eingebracht worden war.

In den „Grenzboten“ untersucht ein gewisser Hans Wagner, der in Kolonialpolitik macht, die Politik Deutschlands seit dem Bestehen des Deutschen Reiches und geht namentlich mit Bismarck für sein mangelhaftes Verständnis des weltpolitischen Berufes Deutschlands streng ins Gericht.

Die ersten paar Jahre nach der Gründung des Reiches schenkt ihm Wagner noch großmütig: Da war die Schöpfung doch noch zu jung und frisch und gab noch zu viel mit sich zu tun, als daß man sofort mit Flotte und Kolonien ans Werk ging. Aber schon 1874 begeht Bismarck die erste große Unterlassungssünde: Er weist den Sultan von Sansibar mit seinem Ansuchen um deutsche Schutzherrschaft zurück.

Im nächsten Jahre, 1875, lehnt er gleichfalls die Bemühungen des Präsidenten Burgers von Transvaal um den Anschluß an Deutschland ab, ein Jahr später wieder verschließt er sich gegen die Bitte E. von Webers, die Delagoa-Bai von Portugal anzukaufen, ebenso gegen den Wunsch des Bremer Kaufmanns Lüderitz, in der St-Lucia-Bai die deutsche Flagge zu hissen.

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[1] Dieser Artikel ist mit einem Anker gezeichnet, dem gleichen Zeichen wie die Artikel „Nur ein Menschenleben“ (siehe GW, Bd. 1/1, S. 467–470), „Die ‚Unverschämten‘ an der Arbeit“ und „Nochmals die ‚Unverschämten‘“ (siehe ebenda, S. 626–628 u. 638–641), als deren Verfasserin eindeutig Rosa Luxemburg durch Briefe an Leo Jogiches festgestellt werden konnte.

[2] Am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juni 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte zur Verwirklichung imperialistischer Expansionspolitik.