Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 681

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Vielleicht will also das Zentrum die Kosten der Flottenvorlage auf die „Reichen und Reichsten“ abwälzen, sie aus direkten Steuern bestreiten? Aber es war niemand anders als dasselbe Zentrum, das bei der Flottenvorlage von 1898[1] ebenso den sozialdemokratischen Antrag betr. die Einführung einer Reichseinkommensteuer von den mehr als 6 000 Mark jährlich betragenden Einkommen wie die von der Freisinnigen Volkspartei beantragte Reichsvermögenssteuer, die alle Vermögen über 1 011 000 Mark treffen sollte, auf das entschiedenste bekämpfte.

Damals geschah es aus „föderativen“ Rücksichten auf die Rechte der Einzelstaaten, wie die faulen Ausflüchte von der Lieber-Partei formuliert wurden. Aber heute steht das Zentrum genau auf demselben Standpunkt, wie man aus den Reminiszenzen der „Germania“ ersehen kann.

Welches ist also in letzter Linie das eigene Programm des Zentrums in der Deckungsfrage? Weder von einer Anleihe noch von indirekter Mehrbelastung des Volkes, noch von direkter Belastung der höheren Klassen will es etwas wissen! Quo vadis, domine? (Wohin des Weges, Herr?) muß man dann die Zentrumspartei fragen.

Aber hier liegt gerade der Hund begraben. Es entspricht der jesuitischen Politik des Zentrums, daß es durch ganz unnütze Kreuzundquerzüge die Aufmerksamkeit auf reine Nebensächlichkeiten, wie die Form der Deckungsfrage, zu lenken sucht, um unter dem Schein heftiger Konflikte mit der Regierung den Inhalt ihrer Forderungen im entscheidenden Augenblick zu bewilligen.

Daß sich der klassenbewußte Teil des arbeitenden Volkes durch solche Kniffe blenden läßt, dafür ist freilich wenig Aussicht vorhanden. Für die Masse der Steuerzahler existiert die Deckungsfrage gar nicht. Da auf eine Besteuerung der „oberen Zehntausend“ nicht zu rechnen ist, so bedeutet die Annahme der Flottenvorlage in allen Fällen und unter allen Formen: Erhöhung der Getreidezölle und anderer Lebensmittelabgaben. Für die breite Volksmasse gibt es also nur die einfache Frage: Annahme oder Nichtannahme der Flottenvorlage.

Und mit dieser Alternative muß sie der „maßgebenden Partei“ scharf und unbarmherzig auf den Leib rücken. Es wäre ein jämmerliches Zeugnis für die politische Reife der Masse der Volkswähler, wenn diese Alternative nicht zugleich das Sein oder Nichtsein für die Partei des Zentrums bedeuten würde!

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 23 vom 29. Januar 1900.

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[1] Am 28. März 1898 war vom Reichstag die erste Flottenvorlage angenommen worden. Laut Gesetz sollte die deutsche Kriegsflotte in den sechs Jahren (Sexennat) bis 1904 mit einem Kostenaufwand von etwa 482 Millionen Mark wesentlich vergrößert werden. Damit begann Deutschland das Wettrüsten zur See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Deutschland und England führte.