Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 648

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Die amtliche Verkündigung des Weltmachtevangeliums

[1]

Leipzig, 12. Dezember

Nun ist die Flottenvorlage[2] offiziell angekündigt! In der gestrigen Sitzung des Reichstags bei der ersten Etatsberatung gab der Reichskanzler die Erklärung[3] ab, deren Wortlaut unsere Leser in dem heutigen Reichstagsberichte finden.

Es ist allerdings sehr schön von der Regierung, daß sie sich für verpflichtet hält, dem Reichstage sofort bei Eintritt in die Etatsberatung eine Mitteilung über die Flottenvorlage zu machen. Allein, daß sie dies vor der formalen Beschlußfassung des Bundesrates, der verfassungsmäßig allein befugt ist, Gesetzesvorlagen an den Reichstag zu bringen, zu tun für möglich erachtet, deutet auf ein eigentümliches Verhältnis zu den Befugnissen des Bundesrates. Übrigens kann man sich freilich in diesem Punkt nach den letzten Erklärungen des württembergischen Ministerpräsidenten von Mittnacht in Sachen der seligen Zuchthausvorlage[4] über nichts mehr wundern.

Und so mag es denn auch als eine normale Erscheinung hingenommen werden, daß die Flottenvorlage nicht nur vor der Beschlußfassung des Bundesrates in ihren Hauptpunkten angekündigt, sondern daß sie bereits, bevor sie dem Reichstage vorgelegt ist, in nachdrücklicher Weise begründet wurde! Nach dem Reichskanzler nahmen, einer nach dem anderen, der

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In einem Brief vom 17. Dezember 1899 an Leo Jogiches erwähnt Rosa Luxemburg den von ihr geschriebenen Artikel. (Siehe GB, Bd. 1, S. 648.)

[2] Am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juni 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte zur Verwirklichung imperialistischer Expansionspolitik.

[3] Im Namen der Regierungen der deutschen Einzelstaaten hatte der Reichskanzler am 11. Dezember 1899 im Reichstag eine Novelle zum Flottengesetz von 1898 angekündigt, die auf eine wesentliche Erhöhung der Flottenstärke abzielte.

[4] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.