Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 321

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„Am Morgen besuchte ich das Arbeiterviertel. In einer halb zerstörten Hütte mit einem einzigen düsteren und verklebten Fenster, mit einem Ofen aus rohen Ziegelsteinen und einem schiefen Rohre kauerte eine Familie. Auf klebrigem irdenem Boden dicht an der Türe lag ein zweijähriges, mit halb verfaulten Lumpen zugedecktes Kind. Ein anderes, im dunklen, einst rot gewesenen Hemdchen, spielte mit einem Gott weiß woher genommenen Bildchen von einer Konfektschachtel. Noch zwei halbnackte und kranke Wesen wälzten sich im Winkel. Auf einer Bank am Ofen lag der Wirt. Der Riese – Schlepper, der zehn Pud mit seinen Schultern schleppen konnte – lag jetzt danieder, geplagt vom Fieber. Seine Frau und Mutter dieser vier elenden Kinder war betteln gegangen. Die Hütte war gefüllt mit Gestank, Rauch, mit dem Geruch äußersten Elends. Und in der Hütte war nichts mehr zu sehen: weder Bänke noch Geschirr, weder Schrank noch Tisch, nur das Bildchen mit der lächelnden Dame lag wie ein heller Fleck auf dem Fußboden. ‚Was esset ihr?‘ fragte ich. – ‚Brotrinde, Eichel, was Mutter zusammenbringt‘, war die Antwort, ‚gestern haben wir eine Suppe aus dürrem Eichenlaub und Ästen gekocht, aber sie schmeckte nicht sehr gut.‘ — Und überall sah ich dasselbe.“

Die Zarenregierung mußte sich nun selbst an die Rettungstätigkeit machen, wobei sie natürlich alle verblüffenden Tugenden des Bürokratismus entwickelt. Minister und Tschinowniks reisen hinüber, Berichte werden zu Dutzenden geschrieben und hinübergeschickt. Derweil fallen die Bauern wie die Fliegen vor Hunger und Krankheit.

II

Leipzig, 20. Januar

Das bekannte Bild von dem Koloß auf tönernen Füßen ist sehr alt. Bei jeder neuen russischen Anleihe, bei jeder Mißernte wird dem Absolutismus in der westeuropäischen, besonders in unserer Parteipresse der Bankrott prophezeit. Aber der verlotterte Fiskus will immer noch nicht Bankrottieren, der Koloß steht immer noch fest auf seinen tönernen Füßen, ja er schreitet auf ihnen rüstig immer weiter vorwärts.

Das verflossene Jahr hat der zarischen Diplomatie wieder eine Reihe wichtiger Siege in der auswärtigen Politik gebracht: die Lösung der Kretafrage, die Eroberungen von Port Arthur und Talienwan in China, die Machtstellung in der Mandschurei, in Afghanistan, das Abrüstungsmanifest, das eine Zeitlang das Petersburger Kabinett zum Mittelpunkte der internationalen Diplomatie gemacht hatte; all diese Triumphe zeigen, daß

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