Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 623

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Tugend aus Not

[1]

Die Rede des französischen Ministers des Auswärtigen, Delcassé, in der Kammer am 24. November überrascht auf den ersten Blick durch ihre vernünftige Kaltblütigkeit, besonders in der Kolonialfrage. Wie wohltuend klingt von einem Minister des Auswärtigen die Mahnung, nicht den tollen Gelüsten der Weltpolitik zu folgen, sondern auf die Ordnung und Konsolidierung des bereits Errungenen das Augenmerk zu richten! Leider pflegt die Vernunft sich bei einer kapitalistischen Regierung erst dann einzustellen, wenn die Finanznot drängt. Bis vor kurzem machte Frankreich in der Weltpolitik aus Leibeskräften mit. In allen Weltteilen besitzt es Kolonien, es unterwarf sich Tonkin und Madagaskar und eroberte sich so ein enormes Kolonialreich, das aus mehr als zwanzig Besitzungen besteht. Die französischen Krupps hatten gute Tage, und die französischen Schweinburgs schwammen in der Wonne. Nur war es ihnen noch immer nicht genug des Guten, sie hatten immer noch Appetit. Nun mußte aber Frankreich endlich die Rechnung der bisherigen Kolonialwirtschaft aufmachen. Was ergab sich da?

Vor allem müssen die Kosten der Eroberungen in Betracht gezogen werden. Und diese sind nicht gering! Ein Organ der Marinisten und Kolonialschwärmer schlimmster Sorte, der französische „Economiste“, schrieb neulich selbst zerknirscht, daß diese Kosten „über alle Erwartungen enorm“ waren. Die Unterjochung Algeriens und Tunesiens allein kostete Frankreich über 2 Milliarden, anderer Kolonien über 1 Milliarde Franc (1 600 Millionen Mark). Die Zinsen der Kolonialanleihe betragen

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[1] Diese Notiz ist nicht gezeichnet. Aus einem Brief Rosa Luxemburgs vom 27. November 1899 an Leo Jogiches geht hervor, daß sie die Verfasserin ist. (Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 410.)