Allein, Jaurès und seine Freunde stellten wiederholt die Frage auf einen ganz anderen Boden, indem sie den Eintritt eines Sozialisten in die bürgerliche Regierung bloß als eine außerordentliche Maßregel in Zeiten der Krise, zu einem streng begrenzten Zwecke in Erwägung zogen.
Betrachtet man aber den Eintritt Millerands in das Kabinett Waldeck-Rousseau bloß als eine durch eine Zwangslage diktierte Maßregel zur Beilegung der nationalistisch-klerikalen Krise, so ist jedenfalls mit der Beendigung der Krise auch die besondere Mission des sozialistischen Ministers zu Ende. Ob Millerand im Kabinett Waldeck-Rousseau bleibt oder nicht, er hört jedenfalls mit dem Aufhören der Krise auf, für die sozialistische Kammergruppe ein Bindeglied mit der Regierung zu sein und bei ihrer allgemeinen Taktik in der Kammer in Betracht zu kommen.
Ohne das Kabinett in entscheidenden Momenten – solange es der Republik noch Schutz gewährt – zu Fall zu bringen, müssen doch die Sozialisten ihm gegenüber eine aggressive, vorwärtstreibende Politik befolgen, wie sie sie jeder anderen bürgerlichen Regierung gegenüber bis jetzt befolgt haben und wie sie z. B. in dem Verhalten der Gruppe Vaillant-Zévaès am 14. November zum Ausdruck kam.
So werden beide Gruppen der französischen Abgeordneten durch den Gang der Dinge gegenwärtig – jede von ihrem Standpunkt – logisch dazu geführt, eine ganz identische Taktik in der Kammer zu vertreten.
Damit wird selbstverständlich für den bevorstehenden Einigungskongreß der günstigste Boden bereitet. Er wird nicht mehr, wie es inauguriert wurde, unter den Auspizien der Fehde, sondern unter ganz veränderten Verhältnissen stattfinden, die den Streit antiquieren und ihm somit den Stachel der Leidenschaftlichkeit nehmen, die vielmehr der Einigung schon von vornherein materiell vorgearbeitet haben.
Die unvermeidlich langen und langwierigen Vorbereitungen des Einigungskongresses der französischen Sozialisten, der am 3. Dezember zusammentreten wird, haben diesmal eine gute Seite gehabt: Sie ließen den Beginn des Einigungswerks die Ursache der Zwietracht überdauern und haben so der inner- und außerhalb Frankreichs gleich ersehnten Eintracht in der französischen Partei die Wege geebnet.
Leipziger Volkszeitung,
Nr. 274 vom 27. November 1899.