Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 369

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Vorwort

[1]

Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blick überraschen. Sozialreform oder Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet, der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und die Aufhebung des Lohnsystems, hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.

Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der Theorie von Ed. Bernstein, wie er sie in seinen Aufsätzen „Probleme des Sozialismus“ in der „Neuen Zeit“ 1896/97[2] und namentlich in seinem Buche „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ dargelegt hat. Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke

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[1] Grundlage für die Edition dieser Arbeit ist die 1899 im Verlag der „Leipziger Volkszeitung“ erschienene Ausgabe. Die Änderungen, die Rosa Luxemburg in der 1908 erschienenen Ausgabe vorgenommen hat, wurden eingearbeitet. Ergänzungen in der 2. Auflage sind in Fußnoten beigefügt, die Auslassungen durch eckige Klammern kenntlich gemacht. – 2. Auflage: Erster Teil.

[2] Siehe Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 164–171, 204–213, 303–311, 772–783; Zweiter Band, S. 100–107, 138–143.