zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am schärfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: „Das Endziel, was es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung alles.“[1]
Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage Sozialreform oder Revolution? im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern[, darüber muß sich jedermann in der Partei klarwerden,] handelt es sich[2] nicht um diese oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung.
[Bei flüchtiger Betrachtung der Bernsteinschen Theorie kann dies als eine Übertreibung erscheinen. Spricht denn Bernstein nicht auf Schritt und Tritt von Sozialdemokratie und ihren Zielen, wiederholt er nicht selbst mehrmals und ausdrücklich, daß auch er das sozialistische Endziel, nur in einer anderen Form, anstrebe, betont er nicht mit Nachdruck, daß er die heutige Praxis der Sozialdemokratie fast gänzlich anerkenne? Freilich ist das alles wahr. Ebenso wahr ist es aber, daß seit jeher in der Entwicklung der Theorie und in der Politik jede neue Richtung in ihren Anfängen an die alte, auch wenn sie im inneren Kern zu ihr in direktem Gegensatz steht, sich anlehnt, daß sie sich zuerst den Formen anpaßt, die sie vorfindet, die Sprache spricht, die vor ihr gesprochen wurde. Mit der Zeit erst tritt der neue Kern aus der alten Hülle hervor, und die neue Richtung findet eigene Formen, eigene Sprache.
Von einer Opposition gegen den wissenschaftlichen Sozialismus erwarten, daß sie von Anfang an ihr inneres Wesen selbst klar und deutlich bis zur letzten Konsequenz ausspricht, daß sie die theoretische Grundlage der Sozialdemokratie offen und schroff ableugnet, hieße die Macht des wissenschaftlichen Sozialismus unterschätzen. Wer heute als Sozialist gelten, zugleich aber der Marxschen Lehre, dem riesenhaftesten Produkte des menschlichen Geistes in diesem Jahrhundert, Krieg erklären will, muß mit einer unbewußten Huldigung an sie beginnen, indem er sich vor allem selbst zum Anhänger dieser Lehre bekennt und in ihr selbst Stützpunkte für ihre
[1] „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 556.)
[2] 2. Auflage: eingefügt „in letzter Linie“.