Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 361

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Verschiebungen in der Weltpolitik

Leipzig, 13. März

Ob der Versuch Italiens, in China sein Banner aufzupflanzen[1], ihm glückt oder nicht, er bleibt jedenfalls ein interessanter Beleg für die magnetische Anziehungskraft, die der asiatische Osten auf die Politik aller europäischen Staaten ausübt. Auch das zerrüttete Italien, das nicht leben kann, aber auch nicht sterben will, fühlt, daß die Weltschicksale des Kapitalismus gegenwärtig am Gelben Meer entschieden werden.

In der Tat bildet der chinesisch-japanische Krieg eine Epoche nicht nur in der asiatischen, sondern auch in der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. Es wurde bereits zum Schlagworte, daß wir seit dem Frieden von Shimonoseki (17. April 1895)[2] zwei Orientfragen haben: die am Bosporus und die am Gelben Meer. Richtiger wäre es, zu sagen, daß wir nunmehr eine Orientfrage – die ostasiatische – haben, denn die ältere, die konstantinopolitanische, hat nunmehr ihre große Bedeutung verloren, an ihrer Stelle ist die chinesische in den Vordergrund getreten.

Schon seitdem in den achtziger Jahren alle wichtigeren im Schoße der Türkei verborgen gewesenen slawischen Länder ihre Unabhängigkeit erworben hatten und die geschichtliche Zersetzung des türkischen Reiches vor den internationalen politischen Interessen Europas haltmachen mußte,

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[1] Am 28. Februar 1899 wurde bekannt, daß Italien von China die Abtretung oder Verpachtung der Sanmun-Bai verlangt hatte. China lehnte jedoch diese Forderung am 5. März 1899 ab. Da England nur mit einer diplomatischen Aktion Italiens einverstanden war, gab die italienische Regierung im Mai eine Erklärung ab, wonach sie in China keine territorialen Erwerbungen, sondern lediglich Kohlenstationen anstrebe.

[2] Mit dem Frieden von Shimonoseki am 17. April 1895 wurde der chinesisch-japanische Krieg um die Vorherrschaft in Korea zugunsten Japans beendet und China gezwungen, die Gebietsforderungen Japans anzuerkennen. Damit begann die Phase der Aufteilung Chinas in Einflußsphären der imperialistischen Mächte.