Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 362

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war die bisherige Rolle der türkischen Frage vorläufig abgeschlossen. Mit dem Augenblicke, als die Aufrechterhaltung der Integrität (Unversehrtheit) der Türkei zur Losung der internationalen, vor allem der russischen Diplomatie geworden war, wurde auch die ganze alte Orientfrage für die europäische Politik zum toten Punkt. Einerseits verdichteten sich am Bosporus die wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Interessen und zugleich die wichtigsten Gegensätze aller europäischen Großstaaten, andererseits konnten sie aber vom gegebenen Zeitpunkt an weder vorwärts noch rückwärts. Die bewegenden Kräfte der Weltpolitik waren sozusagen in der Hohen Pforte eingeklemmt, die Gegensätze konnten weder zum Ausbruch kommen noch aufgehoben werden.

Mit dieser letzten Periode der politischen Windstille fällt auch eine Periode wirtschaftlichen Niedergangs in Europa zusammen: der Kapitalismus befand sich ebenso wie seine Diplomatie seit einer Reihe von Jahren in der Klemme.

Der chinesisch-japanische Krieg von 1895 fiel in diesen Zeitabschnitt der wirtschaftlichen und politischen Ermattung des kapitalistischen Europas wie himmlische Gnade: Mit einemmal wurde gleichsam der geschichtliche Vorhang Asiens aufgezogen. Ein ganzer Weltteil ward dem eingeengten Strom der kapitalistischen Entwicklung preisgegeben. Vor allem gewann die europäische Politik ein neues großes Wirkungsfeld. Während sie sich zuletzt in der Türkei auf einen einzigen strategischen Punkt versteifen mußte, wurde ihr hier ein ganzes gewaltiges Reich erschlossen. Und während die Eroberung Konstantinopels für die wirtschaftlichen Verhältnisse der europäischen Staaten nur von mittelbarer Wichtigkeit war, bietet die Erschließung Chinas dem Kapitalismus ebenso wie der internationalen Politik einen unerschöpflichen Nährboden. Während endlich am Bosporus vor allem nur Rußland, England und Österreich, andere Großstaaten dagegen nur mittelbar beteiligt waren, sind sie bei der jetzigen großen Aufteilung Chinas alle, mit Einschluß der nordamerikanischen Union, unmittelbar interessiert, und was noch nicht ganz abgestorben ist, sucht, wie Italien, um jeden Preis mit bei der Sache zu sein.

Was vor allem in dem weltgeschichtlichen Schauspiel, das sich vor unseren Augen in diesen Tagen abspielt, überrascht, ist die beispiellose Schnelligkeit, mit der sich die europäischen Staaten – wirtschaftlich wie politisch – des neuen Gebietes bemächtigen. Der ganz plötzliche Aufschwung des Handels seit dem Frieden von Shimonoseki – man vergleiche nur die Zahlen für den Handel über Hiogo, der aber für die Verhältnisse typisch ist:

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