Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 672

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Die Handelspolitik

Leipzig, 22. Januar

Seit einiger Zeit erscheinen auf dem Gebiete dieser gegenwärtig so aktuellen Frage zahlreiche neue Schriften, wie es auch aus Anlaß der Zolltarif-revisionen Ende der 70er und Anfang der 90er Jahre[1] der Fall war. Daß die schriftstellerischen Übungen über das Thema der Handelspolitik einen positiven Einfluß auf den Gang der zollpolitischen Verhandlungen Deutschlands haben würden, darüber werden sich wohl nur diejenigen Illusionen hingeben können, die den Gang der Dinge in diesen Fragen aus der früheren Geschichte der deutschen Handelspolitik nicht beobachtet haben.

Tatsächliche Machtverhältnisse der verschiedenen Interessengruppen, wirtschaftliche Parteien und augenblickliche politische Zusammenhänge der Handelspolitik entscheiden jedesmal über den Ausgang der Zollrevision, und nicht sogenannte Vorbereitungsarbeiten, theoretische oder statistische. Diese spielen vielmehr nur insofern eine Rolle, als sie den von vornherein gegebenen Interessen zur Bekräftigung ihrer Argumentation dienen.

Einen klassischen Beleg hierfür bietet das Schicksal der beiden Produktionsenqueten zur Vorbereitung der Zolltarifrevision in Deutschland im Jahre 1878 und in Italien im Jahre 1885 und 1886. In Deutschland wurde die Erhebung bekanntlich mit der ganzen das Bismarcksche Regiment bezeichnenden brutalen Ungeniertheit ad usum der agrarischen hoch-

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[1] Am 12. Juli 1878 waren im Reichstag ein Schutzzolltarif und ein Gesetz über Finanzzölle angenommen worden, die hauptsächlich der Eisen- und Stahlindustrie sowie den Junkern zusätzliche Profite garantierten. Sie führten zur teilweisen Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz auf dem nationalen Markt sowie zur Monopolisierung der Eisenindustrie und zum Dumping auf dem internationalen Markt.

Am 26. Februar 1894 hatte der Bundesrat beschlossen, den Identitätsnachweis für ausgeführtes Getreide aufzuheben, wodurch den Junkern ein jährlicher Staatszuschuß von 500 Millionen Mark zufloß. (Siehe dazu auch S. 709-718.)