Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 20

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/20

II

Man braucht nur einige allgemein bekannte Tatsachen aus dem gesellschaftlichen Leben Polens zusammenzustellen, um ein ungefähres Bild der polnischen sozialen Verhältnisse zu zeichnen, welches mit zwingender Logik auf die Undurchführbarkeit der Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaats durch die Aktion des polnischen Proletariats schließen läßt. „Der polnische Adel, die polnische Geistlichkeit und Bourgeoisie fühlen sich wohl im Hundeloch und fangen an, die insurrektionelle Fahne abzuschwören“[1], so sagen die Sozialpatrioten selbst. Soweit haben sie auch ganz recht: Sie konstatieren nur die allgemein bekannte Tatsache der Regierungstreue der herrschenden Klassen in allen drei Teilen Polens. Nun haben sie aber leider unterlassen, aus diesen sehr richtigen Beobachtungen auch richtige Schlüsse zu ziehen.

Die politische Physiognomie der Bourgeoisie ist hier wie stets der getreueste Spiegel der Interessen des Kapitalismus im Lande. Übersetzen wir die politische Erscheinung der Regierungstreue der polnischen herrschenden Klassen in allen drei Annexionsstaaten in die Sprache ihrer materiellen Interessen zurück, so gelangen wir zu dem untrüglichen Schlusse, daß die Wiedervereinigung Polens nicht im Interesse seiner ökonomischen Entwicklung liegen kann, die sich eben in der polnischen Bourgeoisie verkörpert.

In Deutschland z. B., wo die politische Einigung gerade eine Lebensbedingung der kapitalistischen Entwicklung bildete und bereits auf dem Boden der Kleinstaaterei durch den Zollverein vorbereitet wurde, sehen wir die Bourgeoisie schon sehr früh für die politische Einigung eintreten. Ganz anders im gegenwärtigen Polen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den drei Teilen Polens sind so geringfügig, daß sie für das ökonomische Leben derselben kaum in Betracht kommen. Dagegen beherrschen die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen jedem Teile Polens und seinem betreffenden Annexionsstaat die gesamte Wirtschaft des ersteren, insofern diese eine moderne Gestalt angenommen. Die polnische Bourgeoisie schwärmt denn auch für nichts weniger als für die Wiedervereinigung Polens und für nichts mehr als für die ökonomische Ausbeutung der günstigen Bedingungen, die ihr die Zugehörigkeit zu den Annexionsstaaten darbietet, so des enormen Arbeitsmarkts und der protektionistischen Zollpolitik in Rußland, des Getreidemarkts in Deutschland, der beständigen Nachfrage nach Rohstoffen in Niederösterreich und Böhmen etc.

Nächste Seite »



[1] Bulletin off., Nr. 1, S. 4 [Fußnote im Original]