Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 21

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Und obwohl Russisch-Polen ein großindustrielles Land ist, während in Galizien und Preußisch-Polen der Großgrundbesitz die tonangebende, herrschende Klasse darstellt, was natürlich in vielen Beziehungen die sozialen Verhältnisse hier und dort verschieden gestaltet haben mag, so stimmen jedoch in dem entscheidenden Punkt, auf den es hier ankommt, alle drei polnischen Länder vollkommen überein, und der galizische und preußisch-polnische Junker hält ebenso fest an dem Annexionsstaat wie der russisch-polnische Großbourgeois. Wenn also in Deutschland zwischen den zersplitterten Ländern die ökonomische Attraktion, sozusagen die zentripetalen Tendenzen des Kapitalismus, wirkte, geht die ökonomische Entwicklung in Polen in gerade entgegengesetzter Richtung oder, genauer, in drei verschiedenen Richtungen – zur Verschmelzung jedes seiner Teile mit dem betreffenden Annexionsstaat führend. Am meisten hat sich dieser Einverleibungsprozeß in Russisch-Polen geltend gemacht, die anderen Teile Polens erliegen aber, wenn auch langsam, demselben Prozeß. Somit steht die Wiederherstellung Polens, weit entfernt, das Ergebnis seiner gesellschaftlichen Entwicklung zu sein, vielmehr in direktem Widerspruch zu derselben.

Schon angesichts des Gesagten stellt sich die Eroberung der Unabhängigkeit Polens durch die Kraft des polnischen Proletariats als eine Aufgabe dar, wie sie schwerer keinem anderen Proletariat in der Welt je zugefallen ist. Hier handelt es sich nicht mehr um die Erringung gewisser, wenn auch noch so weitgehender politischer Zugeständnisse, wie z. B. einer Verfassung in Rußland oder des allgemeinen Wahlrechts in Österreich – Zugeständnisse, die keineswegs der kapitalistischen Entwicklung dieser Länder widersprechen, im Gegenteil, selbst ihr natürliches Ergebnis sind. Nein, die Sozialpatrioten geben unserem Proletariat eine viel härtere Nuß zu knacken. Während bisher neue Staatengebilde von den besitzenden Klassen in ihrem eigenen Interesse geschaffen wurden, und zwar unter Benutzung der Volksklassen als eines unbewußten Werkzeugs, soll hier das bewußte Proletariat selbst einen neuen Klassenstaat ins Leben rufen. Ja noch mehr, es soll dahin, ihrem Willen und Interesse zuwider, mit Gewalt seine sich dagegen mit Händen und Füßen wehrende Bourgeoisie, genauer seine drei Bourgeoisien, verpflanzen, dabei die gegebene Richtung der ökonomischen Entwicklung seiner Länder vergewaltigend. Um also die Unabhängigkeit Polens zu erobern, müßte das Proletariat nicht nur die Gewalt der drei mächtigsten Regierungen Europas brechen, sondern auch stark genug sein, die materiellen Lebensinteressen seiner Bourgeoisie zu bezwingen. Mit anderen Worten, es müßte trotz seiner Stellung als ge-

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