Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 679

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Zentrum und Deckungsfrage

[1]

Leipzig, 29. Januar

Je näher die Entscheidung in der Flottenvorlage[2] heranrückt, um so bedenklicher wird die Haltung derjenigen Partei, in deren Händen – zum Unglück für die Volksmasse – die Entscheidung in dieser wie in allen wichtigen Fragen augenblicklich liegt.

Während nämlich die Zentrumspresse bis jetzt im ganzen wacker die Flottenvorlage als solche kritisierte, befaßt sie sich seit einigen Tagen merkwürdig viel mit der Deckungsfrage. Das leitende Zentrumsblatt, die „Germania“, läßt fast keinen Tag verstreichen, ohne die Deckungsfrage eingehend zu erörtern und sie namentlich dem Bundesrate warm ans Herz zu legen.

Was soll das eigentlich bedeuten? Will das Zentrum die Flottenvorlage glatt ablehnen, dann kann es seine Zeit und Tinte für solche Detailfragen wie die Kostendeckung ruhig sparen. Man redet nicht soviel über Deckung, wenn man die Ausgaben nicht zu bewilligen gedenkt!

Was soll ferner der feierliche Ernst, mit dem die katholische Presse Tag für Tag dem Bundesrate ins Gewissen redete und ihn beschwor, „eine gründliche Prüfung der mit den Flottenplänen zusammenhängenden politischen, volkswirtschaftlichen und finanziellen Fragen vorzunehmen“? Erwartete etwa das Zentrum, daß der Bundesrat die Flottenvorlage ablehnt? Das Pochen auf den zur Rolle eines Statisten reduzierten Bundesrat seitens einer Partei, bei der doch die Entscheidung im Reichstag liegt, ist höchst verdächtig. Das ganze Gebaren des Zentrums in dieser Beziehung hat den starken Anschein, wie wenn es von vornherein die Verantwortlichkeit für das Zustandekommen der Flottenvermehrung von sich

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[1] Dieser Artikel ist mit einem Anker gezeichnet, dem gleichen Zeichen wie die Artikel „Nur ein Menschenleben“ (siehe GW, Bd. 1/1, S. 467–470), „Die ‚Unverschämten‘ an der Arbeit“ und „Nochmals die ‚Unverschämten‘“ (siehe ebenda, S. 626–628 u. 638–641), als deren Verfasserin eindeutig Rosa Luxemburg durch Briefe an Leo Jogiches festgestellt werden konnte.

[2] Am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juni 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte zur Verwirklichung imperialistischer Expansionspolitik.