Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 577

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V Antrag 66

[1]

Auf die Tagesordnung des Parteitages 1900 wird gesetzt:

Die Taktik der Sozialdemokratie bei den Landtagswahlen.

VI Begründung des Antrages 66

[2]

Die Vorgänge bei den letzten bayrischen Wahlen[3] haben den Beweis geliefert, daß die Taktik der Genossen in den einzelnen Ländern keine gleichgültige Sache für die Gesamtpartei bleiben darf. Wir haben auch schon einen Präzedenzfall in dieser Richtung. Die Taktik bei den preußischen Landtagswahlen wurde bereits von einem Parteitag geregelt.[4] Was den preußischen Genossen recht ist, ist auch den bayrischen und badischen Genossen billig. („Sehr richtig!“) Auch für die preußischen Landtagswahlen ist der bayrische Vorgang wichtig. Wenn man die bayrische Abmachung als ein Vorbild und eine Konsequenz der Beteiligung an den preußischen Wahlen hinstellt, so muß das nur die Befürchtungen der Gegner der Beteiligung bekräftigen und auf manchen Anhänger der Beteiligung abschreckend wirken. Die Bebelsche Resolution ist in ihren Angaben über unser Verhalten zu den bürgerlichen Parteien so allgemein, daß für mich kein Grund war, gegen diesen Absatz[5] zu stimmen. („Sehr richtig!“) Ein praktischer Fingerzeig für unser Verhalten den bürgerlichen Parteien gegenüber ist um so weniger darin vorhanden, als der Begriff Kompromiß in letzter Zeit schwankend geworden ist. Deshalb habe ich auch für den Absatz 3 der Bebelschen Resolution gestimmt, obwohl ich in der Frage der bayrischen Wahlen auf einem dem Bebelschen entgegengesetzten Standpunkt stehe und eben den Antrag 66 eingebracht habe, um einer Wiederholung der bayrischen Vorgänge vorzubeugen. Nicht darum handelt es

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[1] Dieser von Rosa Luxemburg u. a. Sozialdemokraten gestellte Antrag wurde angenommen.

[2] Redaktionelle Überschrift.

[3] In den Wahlkreisen München I und Rheinpfalz hatten die Sozialdemokraten und das Zentrum eine gemeinsame Liste ihrer Wahlmänner für die Wahlen zum bayrischen Landtag am 17. Juli 1899 aufgestellt. Zwar konnte die Sozialdemokratie die Zahl ihrer Mandate von 5 auf 11 erhöhen, dem Zentrum jedoch brachte dieses Bündnis die absolute Mehrheit im Landtag.

[4] Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 3. bis 9. Oktober 1897 in Hamburg hatten sich in der Debatte über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen im wesentlichen zwei Auffassungen gegenübergestanden: Befürwortung und Ablehnung der Beteiligung. Die Mehrheit des Parteitages entschied sich für die Beteiligung an den Landtagswahlen mit der Maßgabe, keine Kompromisse oder Wahlbündnisse mit anderen Parteien einzugehen.

[5] Absatz 3 der Resolution August Bebels besagte, daß die Sozialdemokratie von Fall zu Fall mit bürgerlichen Parteien zusammengehen könne, wenn es im Interesse der Partei und der Arbeiterklasse liege.