Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 559

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/559

War es ein Kompromiß?

Genosse Parvus, den wir in unserer Betrachtung über die bayerische Landtagswahl[1] nur im Vorbeigehen erwähnt haben, antwortet uns in der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“[2] durch eine Verteidigung des Vorgehens der bayerischen Genossen auf der ganzen Linie. Vor allem wirft er uns die Befürwortung eines reaktionären Kartells des Zentrums mit den Nationalliberalen, ihrer Zersplitterung gegenüber, vor.

Das ist allerdings ein sehr schwerer Mißgriff! Ein reaktionäres Kartell statt der bürgerlichen Zersplitterung befürworten, das ist so ungefähr das direkte Gegenteil von dem, was die Arbeiterinteressen erfordern. Nur vergißt der gute Parvus, daß im gegebenen Fall die Frage lautete, nicht: Kartell oder Zersplitterung, sondern Kartell oder sichere Mehrheit einer Reaktionspartei. Steht aber die Frage so, dann muß die Sozialdemokratie allerdings das Kartell und nicht die Mehrheit vorziehen. Die positiven praktischen Errungenschaften im Landtage sind der Sozialdemokratie in beiden Fällen gleich unmöglich gemacht, das Kartell entlarvt und kompromittiert aber wenigstens alle bürgerlichen Parteien gleichmäßig, ist also vom agitatorischen Standpunkt viel günstiger als die Herrschaft einer Partei, die den anderen, nicht um ein Haar besseren Parteien die Möglichkeit gibt, die verfolgte Unschuld zu spielen. Von diesem Standpunkt erachten wir eben den Vorgang der bayerischen „praktischen Politik“ für einen starken Mißgriff.

Daß das Zentrum „auch ohne uns“ die Majorität erlangt hätte, geht uns hier nichts an. Das Sozialistengesetz war auch „ohne uns“ angenommen, deshalb haben wir doch bei seiner Annahme nicht mitgeholfen.

Nächste Seite »



[1] Siehe Rosa Luxemburg: Die „bayerischen Verhältnisse“. In: GW, Bd. 1/1, S. 497–504.

[2] Parvus: Und abermals die bayrischen Landtagswahlen. In: Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 219 vom 21. September 1899.