Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 558

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er aber in der Weise am wirksamsten zu erfüllen, daß er seinerseits zu all den Streitigkeiten – schweigt, wie wenn er tot und begraben wäre.

Aber es ist nur die bekannte Selbsttäuschung aller Ohnmacht, zu glauben, daß die unliebsame Erscheinung verschwindet, wenn man sich über sie ausschweigt. Tatsächlich verkehrt sich die Einigungspolitik des „Vorwärts“ in ihr Gegenteil, in die Verschärfung der vorhandenen Gegensätze, und dies ist es, was uns verbietet, die Beschwichtigungsaktion unseres Zentralorgans bloß von der komischen Seite zu nehmen.

Durch Vertuschung der Gegensätze, durch künstliche „Vereinigung“ unvereinbarer Ansichten läßt man die Gegensätze nur zur vollen Reife gedeihen, bis sie früher oder später in einer Spaltung sich gewaltsam Luft verschaffen. Nicht wir verlangen, wie der „Vorwärts“ sich ausdrückt, die „Abstoßung“ (wohl ein schüchterner Ausdruck für Ausstoßung) der opportunistischen Elemente, wir haben in der „Leipziger Volkszeitung“ die nach unserer Meinung notwendigen Maßregeln deutlich genug dargelegt.[1]Es ist umgekehrt die Versöhnungspolitik des „Vorwärts“, die in hohem Maße die Gefahren einer Spaltung heraufbeschwört. Wer die Spaltung in den Ansichten hervorkehrt und bekämpft, arbeitet für die Einigkeit der Partei. Wer die Spaltung der Ansichten vertuscht, arbeitet auf eine Spaltung der Partei hin.

Daß der „Vorwärts“ übrigens, ohne zu den Streitfragen je klar und offen Stellung zu nehmen, doch im opportunistischen Fahrwasser schwimmt, beweisen gerade wieder seine eigenen Ausführungen. Denn indem er uns der Bestrebungen beschuldigt, die Partei durch Prinzipienstrenge auf eine „Sekte“ reduzieren zu wollen und an „scheinradikalem Gebaren“ Gefallen zu finden, wiederholt er ja Wort für Wort dieselben Vorwürfe, die Bernstein unserer Partei macht.

Aussöhnung aller Meinungsdifferenzen durch eigene Meinungslosigkeit und Verteidigung der Parteiprinzipien durch Vertuschung der Prinzipienverstöße – diese seine Tätigkeit glaubt das Zentralorgan in den Worten formulieren zu können: „Der ‚Vorwärts‘ ist in allen Fragen treu zum Parteiprogramm gestanden!“

Vielleicht wollte der „Vorwärts“ sagen: „treu zum Programm gelegen“? Die Partei braucht aber weder ein stehendes und ein liegendes, sondern ein vorwärtsmarschierendes Zentralorgan, und es ist zu hoffen, daß ihm der Parteitag in Hannover Beine machen wird.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 220 vom 22. September 1899.

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Zum kommenden Parteitag. In: GW, Bd. 1/1, S. 534–536.