Die Preisbewegung des letzten Jahres
Leipzig, 9. Mai
Es ist eine der fundamentalen Verkehrtheiten der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, daß die Gesellschaft nur an der Bewegung der Warenpreise den Stand der Produktion, ihr Verhältnis zu der Nachfrage, ihr Programm für die nächste Zukunft zu entziffern vermag. Wie die chaldäischen Priester aus der Stellung der Sterne am Himmel die wichtigsten Weisungen für die antike Landwirtschaft deuteten, so muß die kapitalistische Gesellschaft ihre eigenen Bedürfnisse, ihre eigenen Verhältnisse wie etwas Fremdes, Außermenschliches, Naturgesetzliches aus ihren eigenen Produkten, aus den Warenpreisen enträtseln. Statt auf direktem, kürzestem Wege der planmäßigen Wirtschaft erst die Bedürfnisse der Gesellschaft zu ermitteln und die Produktion danach zu richten, stellt die anarchische kapitalistische Wirtschaft die Dinge auf den Kopf, produziert erst blindlings darauflos, soviel es halten mag, und fragt dann hintennach ihre Priester, die Börsenspieler, die Statistiker, die Ökonomen: Nun, welche Zeichen lest ihr in den Sternen – auf dem Kurszettel –, wird uns bald der Himmel über dem Kopf zusammenkrachen, oder steht das Zeichen noch auf schön Wetter?
Professor Johannes Conrad veröffentlicht im letzten Heft der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ die Zusammenstellung der Warenpreise für das Jahr 1899[1], die er nach dem gleichen System wie die vorhergehenden Veröffentlichungen dieser Art bearbeitet hat. Das allgemeine Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß das vergangene Jahr allem Anschein nach der Ausgangspunkt eines neuen Abschnitts der Preisent-
[1] Johannes Conrad: Die Entwicklung des Preisniveaus in den letzten Dezennien und der deutsche Getreidebedarf in den letzten Jahren. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Hrsg. von Dr. J. Conrad, III. Folge, 19. Bd., Jena 1900, S. 525–539.