Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 505

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Preußische Ministerwechsel und die Sozialdemokratie

Leipzig, 9. September

Für die politischen Verhältnisse in Preußen ist es außerordentlich charakteristisch, daß bei dem neuesten Ministerwechsel[1] die Presse sich in widerspruchsvollsten Vermutungen ebenso über die wahre Ursache wie über die politische Bedeutung dieses Wechsels verliert.

Bald sollen die Gefallenen Opfer ihrer unzulänglichen Tätigkeit für die Kanalvorlage[2], ihre Verabschiedung also ein Mittel zur „Verstärkung der Regierung im Kampfe mit dem kanalfeindlichen Agrariertum“ sein. Bald sollen sie im Gegenteil die Sündenböcke für die Landratsaussperrung[3], ihr Fall also ein Kniefall vor dem Agrariertum sein.

Ebenso ist der Charakter der kommenden Männer Gegenstand widerspruchsvoller Vermutungen. In Preußen ist man ja bereits an vieles gewöhnt, so daß man das Ungeheuerliche oft gar nicht mehr bemerkt. Und doch bleibt es das Ungeheuerliche. Man denke in der Tat: Ein großes Volk, das sich ökonomisch, geistig, literarisch für einen Vorkämpfer seiner Zeit hält, hat nicht den geringsten Einfluß auf das Kommen und Gehen

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[1] Am 4. September 1899 waren auf Grund von Differenzen über den Bau eines Kanalnetzes zwischen Rhein und Elbe der Minister des Innern, Eberhard Freiherr von der Recke, und der Minister für geistliche Angelegenheiten, Dr. Robert Bosse, zurückgetreten. Nachfolger wurden der Vertraute Krupps, Georg Freiherr von Rheinbaben, und Dr. Konrad von Studt.

[2] Mitte März 1899 war im preußischen Landtag von der Regierung, unterstützt von den Liberalen sowie von Industrie- und Militärkreisen, eine Vorlage zum Bau eines Verbindungskanals zwischen Rhein, Ems, Weser und Elbe eingebracht, von ostelbischen Agrariern im August 1899 aber zu Fall gebracht worden, da sie ein Sinken der Getreidepreise infolge billiger Einfuhrmöglichkeiten und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Industriezentren befürchteten und gleichzeitig auf die Zollpolitik Druck ausüben wollten.

[3] Einige Landräte und Verwaltungsbeamte, die als Abgeordnete des preußischen Landtags im August 1899 gegen die Vorlage der Regierung zum Bau eines Kanalnetzes zwischen Rhein und Elbe gestimmt hatten, wurden in den Ruhestand versetzt, weil sie damit ihre Pflichten im königlichen Dienst verletzt hätten.