Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 506

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seiner „ersten Diener“ im Staate. Ja es hat nicht einmal eine Ahnung davon, warum diese oder jene seiner politischen Geschäftsführer gegangen sind und welche an ihre Stelle kommen. In Frankreich, in England werden die Minister von der Volksvertretung berufen und verabschiedet, und es ist dort der Chef der Regierung, der sich darüber den Kopf zerbricht, welche politischen Ursachen eine Ministerkrise hat und mit welchen Männern dem Willen und der Absicht der Volksvertretung Genüge getan werden könnte. Dort ist deshalb auch das friderizianische Wort von der Dienerstellung der Regierung dem Volke gegenüber insofern zur Wahrheit geworden, daß es wenigstens seinen formellen politischen Ausdruck in dem parlamentarischen Charakter der Ministerien findet. In Deutschland verliert sich das Volk in haltlosen Konjekturen über den Willen und die Absichten des Regierungschefs, und das Volk ist es, das hier in bescheidener Dienerstellung auf Winke und Weisungen von oben, auf die neuen Geschäftsführer des Herrschers und ihre Willensäußerungen wartet.

Es ist die völlige politische Unmündigkeit des Volkes, die sich in den gegenwärtigen Kannegießereien der Presse über den preußischen Ministerwechsel offenbart, und es gehört die ganze Knechtseligkeit unserer Bourgeoisie dazu, das Erniedrigende, Empörende, Beschämende dieser Lage nicht zu empfinden.

Die gegenwärtige Krise ist aber noch in einem anderen Betrachte lehrreich. Wie sehr man auch über die Ursachen der Verabschiedung der beiden Minister im dunkeln sein mag, ihre bisherige Tätigkeit liegt doch vor aller Augen klar, und einer Beurteilung dieser Tätigkeit je nach der Parteistellung steht nichts im Wege. Was sehen wir nun? Etwas ganz Außerordentliches: Keine einzige Partei, kein einziges Blatt findet ein gutes Wort für die Verabschiedeten. Die Agrarier triumphieren, die Liberalen frohlocken, die Sozialdemokraten spotten, und das Staatsoberhaupt hat ja die Minister selbst entlassen. Die beiden Minister vermochten also weder den König noch das freisinnige Bürgertum, weder die Großindustriellen noch die Feudalen, weder die Reaktionäre noch die Sozialdemokratie zu befriedigen! Das ist ein Fall, der wohl einzig dasteht, der nur in Preußen vorkommen konnte.

Und die Ursachen dieser tragikomischen Lage? Man weist auf die Rückgratschwäche, auf die Bedeutungslosigkeit von der Reckes und von Bosses hin, und man hat gewiß recht. Es mag schon sein, daß sich über die Persönlichkeit des gewesenen Ministers des Innern nur soviel sagen läßt, er sei der wohlgescheiteltste preußische Staatsmann gewesen; es mag schon sein, daß der gewesene Minister „des Geistes“ sehr wenig Luther mit

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