Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 82

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Der Sozialismus in Polen

So verschieden die sozialen und politischen Verhältnisse der drei polnischen Landesteile[1], so verschieden auch die Geschichte und Physiognomie der sozialistischen Bewegung in jedem derselben. Trotz des völligen Mangels an politischen Vorbedingungen für einen offenen und kräftigen Klassenkampf bietet gerade der Sozialismus in Russisch-Polen das meiste Interesse, als die in ihrer Entwicklung selbständigste und eigenartigste polnische Arbeiterbewegung. Denn während in Preußisch-Polen und Galizien dem polnischen Proletariat nur übrigblieb, die theoretischen und praktischen Ergebnisse der Entwicklung der deutschen resp. österreichischen Arbeiterbewegung sich anzueignen, mußten sich die Sozialisten in Kongreßpolen[2] durch eigene Erfahrung zu einer klaren sozialdemokratischen Auffassung durcharbeiten, wobei sie der russischen Arbeiterbewegung eher als Vorbild dienten, denn von ihr Kampfwaffen entlehnten.

Der sozialistische Gedanke in Russisch-Polen hat in drei verschiedenen Formen seinen Ausdruck gefunden: als Blanquismus, Sozialdemokratie, Sozialpatriotismus. – Die erste Richtung bildete sich allmählich aus der sozialistischen Gärung, die bereits 1877 unter der akademischen Jugend in Warschau begonnen hatte, und trat 1882 als die sozialrevolutionäre Partei „Proletariat“[3] auf die politische Bühne. Dies war die erste bedeutende sozialistische Organisation, die jahrelang die Bewegung in Polen leitete. Ihre Physiognomie wurde von zwei verschiedenen Momenten bestimmt: einerseits von dem Einfluß der ruhmreichen russischen terroristischen Partei „Narodnaja Wolja“ und andererseits von dem der westeuropäischen Arbeiterbewegung. Von dieser haben die polnischen Sozialisten der 80er

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[1] Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[2] Kongreßpolen bzw. Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[3] Die 1882 von Ludwik Waryński gegründete erste sozialrevolutionäre Arbeiterpartei im Königreich Polen, genannt das „I.“ oder „Große Proletariat“, wurde 1886 in einer großen Verhaftungswelle zerschlagen.