Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 83

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Jahre den allgemeinen Teil des Kommunistischen Manifestes akzeptiert, wenn sie es auch nur einseitig auffaßten. Der Gegensatz der materiellen Interessen des Proletariats und der Bourgeoisie, die kapitalistische Ordnung als die objektive Voraussetzung einer sozialistischen Umwälzung und die historische Mission der Arbeiterklasse, jene Umwälzung zu vollziehen, wurden zum Parteidogma. Dies genügte, um der Bewegung einen ausgesprochen sozialistischen, und zwar einen scharfen, kantigen Klassencharakter zu verleihen. Hier liegt der Unterschied zwischen der polnischen. Partei „Proletariat“ und ihrer Bundesgenossin, der russischen „Narodnaja Wolja“, die ihr sozialistisches Zukunftsideal auf das besitzende Bauerntum stützte und das urwüchsige bäuerliche Gemeineigentum zum Ausgangpunkt der neuen sozialen Ordnung in Rußland machen zu können glaubte.

Die allgemeine Auffassung von den ökonomischen Tendenzen des Kapitalismus reichte jedoch nicht aus, um eine Marschroute für die Partei abzugeben, es galt noch, die aktive Rolle der Arbeiterklasse in der politischen Entwicklung der kapitalistischen Ordnung zu begreifen. Aber gerade in dieser Beziehung stand die Partei nicht auf dem Boden der westeuropäischen Bewegung, sondern auf demjenigen der „Narodnaja Wolja“, die in dem Handstreich einer kleinen revolutionären Minderheit das Mittel sah, sich der Staatsmaschine zu bemächtigen und, gestützt auf das Volk, die soziale Revolution ins Werk zu setzen, den Terrorismus aber als das Hauptmittel betrachtete, den Handstreich vorzubereiten. Auch die Partei „Proletariat“ faßte als ihre unmittelbare Aufgabe nicht etwa die Erringung konstitutioneller Freiheiten von dem Zarismus auf – im Gegenteil, den „bürgerlichen“ Verfassungsliberalismus verhöhnte sie als eine Halbheit –, sondern die Diktatur der Arbeiterklasse, und arbeitete unter dem absoluten Regime direkt auf die soziale Revolution hin. Zwar zählte das geschriebene Programm der Partei pflichtgetreu alle demokratischen Forderungen auf; dieselben sollten aber nicht als Richtschnur für die Arbeiterklasse in ihrem täglichen Kampfe, sondern vielmehr als Übergangsmaßnahmen der künftigen Revolutionsregierung dienen. Demgemäß gingen die Sozialisten darauf aus, „nicht die oppositionelle, sondern die herrschende Partei der Zukunft“ heranzubilden.

Die polnische sozialrevolutionäre Partei „Proletariat“, das war also die westeuropäische Sozialdemokratie ohne das politische Programm und zugleich die russische „Narodnaja Wolja“ ohne die Theorie von der Bauerngemeinde, das war die Theorie von dem blanquistischen Handstreich, aufgepfropft auf die Marxsche Lehre vom Klassenkampf. Daraus erklärt sich die ganze praktische Tätigkeit des „Proletariat“.

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