Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 664

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Der zweite sozialreformerische Frühling

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„Die Sozialdemokratie ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Es wurde uns dies schon so häufig und von so Verschiedenen gesagt, und doch berührt es in diesem Fall ganz eigentümlich. Es liegt unzweifelhaft eine große Dosis historischer Ironie darin, wenn gerade in Deutschland, in dem klassischen Lande des sozialdemokratischen Werdens, und gerade im Zusammenhang mit der modernen technischen Entwicklung von einem temperamentvollen Vertreter des Gottesgnadentums die Vergänglichkeit – der Sozialdemokratie verkündigt wird.

Wenn irgendeine Lehre mit aller wünschenswerten Deutlichkeit durch die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts geliefert worden ist, so ist es die, daß die materielle, die technische Entwicklung der Neuzeit für alles Althergebrachte gefährlich, für das Emporkommen der Klassenbewegung des Proletariats aber geradezu die treibende Kraft ist. Indes gerade bei leitenden Politikern ist das Verkennen der wirklichen sozialen Zusammenhänge meistens eine naturnotwendige Erscheinung. Nichts ist so geeignet, den historischen Blick zu trüben, das Verständnis für die gesellschaftlichen Gesetze zu verkehren, als eine Machtstellung, die nach Gutdünken die Geschicke der Völker lenken zu können glaubt.

Auffälliger ist es zweifellos, wenigstens auf den ersten Blick, wenn von einem ganz anderen Standpunkte aus, von dem einer oppositionellen bürgerlichen Partei, die sozialen Verhältnisse ebenso fehlerhaft betrachtet werden. Die „Frankfurter Zeitung“, das Organ der bürgerlichen Demokratie, erblickt in der neuesten Kundgebung Wilhelms II. über die Sozialdemokratie[2] eine Schwalbe, die – wenn Gott hilft – einen ähnlichen sozial-

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[1] Dieser Artikel ist mit einem Anker gezeichnet, dem gleichen Zeichen wie die Artikel „Nur ein Menschenleben“ (siehe GW, Bd. 1/1, S. 467–470), „Die ‚Unverschämten‘ an der Arbeit“ und „Nochmals die ‚Unverschämten‘“ (siehe ebenda, S. 626–628 u. 638–641), als deren Verfasserin eindeutig Rosa Luxemburg durch Briefe an Leo Jogiches festgestellt werden konnte.

[2] Anfang Januar 1900 hatte Wilhelm II. in einer Ansprache an Vertreter der preußischen technischen Hochschulen u. a. ausgeführt, er betrachte die Sozialdemokratie als eine vorübergehende Erscheinung, sie werde sich austoben.