Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 665

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reformerischen Frühling in Deutschland bringen wird, wie wir ihn schon vor zehn Jahren erlebten und wie ihn die ungeschlachte Sozialdemokratie durch ihr unwirsches Benehmen in der ersten Blüte geknickt hat.

Da liest man:

„Die Sozialdemokratie hätte damals der Arbeiterschaft unberechenbaren Nutzen bringen können, wenn sie die dargebotene Hand ergriffen hätte, wenn sie den Ideen gefolgt wäre, die Vollmar in seinen Reden über Staatssozialismus[1] darlegte. Aber es geschah nicht, und die Folge war, daß auf den jungen sozialpolitischen Frühling ein antisozialer Reif fiel, der jahrelang nicht weichen wollte. Diese Folge hätte gewiß nicht eintreten müssen, denn man hätte sich sagen können, daß von einer Arbeiterschaft, die eben die Ära des Sozialistengesetzes durchgemacht hatte, nicht gut eine plötzliche Vertrauensseligkeit zu erwarten sein werde. Aber bei dem Charakter des Kaisers ist es begreiflich, daß eine Periode des sozialpolitischen Stillstandes kam, als sein guter Wille nicht anerkannt wurde. Die Sozialdemokratie hat auch weiterhin noch manchen Fehlgriff getan. Sie hat die Erinnerungsfeier des Krieges, dem das Deutsche Reich seine Entstehung verdankt, übel behandelt, und da fiel das Wort von der Rotte. Es gab auch noch etliche Mißverständnisse; selbst die Zuchthausvorlage[2] war ein solches, soweit der Kaiser in Betracht kommt, Pastor v. Bodelschwingh legte dafür Zeugnis ab. Und nun scheint es fast, als ob die sozialpolitische Frühlingszeit nach einem langen Winter wiederkehren sollte.“

Man ist förmlich in Verlegenheit, wenn man entscheiden soll, was in dieser wundersamen Geschichtserklärung wundersamer ist: die Zurückführung der Stummschen Ära der Sozialreform auf eine Kränkung des Kaisers, die Auffassung des Verhaltens der Sozialdemokratie zum Sedanrummel als „Fehlgriff“, die Bezeichnung der Zuchthausvorlage als „Mißverständnis“ oder aber die fröhliche Hoffnung auf ein Wiederaufleben der Sozialreform – in dem Hochsommer der Weltmachtpolitik, des Militarismus und der agrarischen Schutzzöllnerei?

Eine bequeme Geschichtsphilosophie! Die Stände haben vor hundert Jahren in täppischer Weise dem französischen König die Steuern verweigert, der nahm es als ein hitziger Herr sehr übel und wandte sich vom

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[1] Georg von Vollmar hatte in zwei Reden, am 1. Juni und 6. Juli 1891, in München von der Sozialdemokratie die Aufgabe ihrer revolutionären Taktik und die Orientierung auf eine reformerische Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft gefordert. Unter dem Titel „Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie“ wurden diese Reden als Broschüre verbreitet. Der sozialdemokratische Parteitag vom 14. bis 20. Oktober 1891 in Erfurt wies die Auffassungen Vollmars entschieden zurück.

[2] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.