Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 666

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Volke ab. Dieses beging dann noch einen Fehlgriff: Es erstürmte die Bastille, dadurch wurden die Beziehungen natürlich noch gespannter; darauf folgte ein fatales Mißverständnis: der Fluchtversuch des Königs, und so kam durch eine Reihe von bedauerlichen Zufälligkeiten die sogenannte Große Französische Revolution zustande. Mit einem solchen Einblicke in die sozialen Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen kann man nämlich auch in einem so bitteren historischen Ernst wie der Französischen Revolution ein Operette sehen, man kann aber leider auch in der Operette des neuesten Kurses nicht ernst handeln. In der kleinbürgerlichen Auffassung war das „Mißverständnis“ von jeher der Hebel der Weltgeschichte, es bleibt bis in unsere Tage ein untrüglicher Schlüssel der Erklärung für alle Ohnmachtspolitik, deren klassische Verkörperung die bürgerliche Demokratie ist.

Im Grunde genommen ist eine zur tatsächlichen Ohnmacht verurteilte Opposition ebenso ungeeignet, die sozialen Dinge in ihrem richtigen Zusammenhang zu erfassen, wie das persönliche Regiment. Hier erscheint die „gepanzerte Faust“ als Deus ex machina der Geschichte, dort der Kratzfuß zur rechten Zeit; hier der unbeschränkte Glaube an sich selbst, dort die unerschöpfliche Hoffnung auf andere.

„Und nun scheint es fast, als ob die sozialpolitische Frühlingszeit wiederkehren sollte“, nämlich auf Grund der Einsicht des Kaisers in die Vergänglichkeit der Sozialdemokratie. Das ist unleugbar der Gipfel der liberalen Weisheit. Es gehört der deutsche Spießbürgerliberalismus dazu, von der Anerkennung der Schwäche, der Ohnmacht einer Sache von seiten ihres Gegners seine Zugeständnisse zu erwarten. Der normale Menschenverstand räsonniert in diesem Falle umgekehrt: Hält man seinen Feind für eine Eintagsfliege, so denkt man gar nicht daran, ihn zu gewinnen, ihm Zugeständnisse zu gewähren, sondern man trachtet höchstens danach, bei Gelegenheit mit einem wohlgezielten Klappenschlag seinem Fliegendasein ein jähes Ende zu bereiten.

Das Wort von der Vergänglichkeit der Sozialdemokratie wie das von der Zerschmetterung sind wesenseins, sie beruhen auf der gleichen Auffassung, nämlich daß die Sozialdemokratie eine störende Abnormität, eine mit den Wurzeln in der Luft schwebende, deshalb leicht zu vernichtende Giftpflanze sei.

Eine Ara ernster Sozialreformen könnte in Wirklichkeit nur dann heranbrechen, wenn die herrschenden Kreise sich endlich von der Unvergänglichkeit der Sozialdemokratie überzeugen würden. Diese Überzeugung kann man ihnen aber, wenn überhaupt, nicht durch hoffnungsfreudige liberale

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