Ein neues Buch über die Gewerkschaften
Leipzig, 1. Dezember
Der wirtschaftliche Arbeiterkampf wird in der letzten Zeit erfreulicherweise immer mehr zum Gegenstand ernster, eingehender Untersuchungen gemacht. Nach dem breit angelegten Werke von Schmöle[1] und der aus Arbeiterkreisen hervorgegangenen Arbeit Bürgers[2] über die Hamburger Gewerkschaften erscheint soeben eine sehr umfangreiche Untersuchung W. Kulemanns über die Arbeiter- und Arbeitgeberkoalitionen sowohl in Deutschland wie in anderen Ländern.[3] Auf das inhaltsreiche Buch, das uns noch zu manchen Bemerkungen Anlaß geben wird, wollen wir hier nur mit einigen allgemeinen Hinweisen aufmerksam machen.
Der Standpunkt des Verfassers ist der eines verständigen bürgerlichen Sozialreformers, der in der wirtschaftlichen Betätigung der Arbeiterkoalitionen ein naturnotwendiges Erzeugnis der modernen gesellschaftlichen Entwicklung und – selbstverständlich! – ein sicheres Gift erblickt, mit dem, bei entsprechendem Gebrauch, die Sozialdemokratie wie die Ratten vertilgt werden könnte. Weshalb die Sozialdemokratie denn in ihrer grenzenlosen Verblendung die Gewerkschaften aus Leibeskräften fördern und unterstützen und so gewissermaßen ihren eigenen Totengräber spielen kann, wie es Kulemann selbst an der Hand der gewerkschaftlichen Geschichte nachweist, bleibt ein Geheimnis. Sicher ist aber, daß der arbeiterfreundliche Landgerichtsrat wie alle Anhänger dieser Auffassung hieraus
[1] Josef Schmöle: Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland seit dem Erlaß des Sozialisten-Gesetzes, Erster, vorbereitender Teil, Jena 1896.
[2] Die Hamburger Gewerkschaften und deren Kämpfe von 1865 bis 1890. Zusammengestellt, bearbeitet und herausgegeben von Heinrich Bürger. Nebst einer graphischen Darstellung der Streiks und Aussperrungen in den Jahren 1885–1890, Hamburg 1899.
[3] W. Kulemann: Die Gewerkschaftsbewegung. Darstellung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter und der Arbeitgeber aller Länder, Jena 1900, 730 Seiten, Großoktav, Preis 10 M. [Fußnote im Original]