Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 125

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befangen. Der fortschrittlichste aller Industriezweige, die Textilindustrie, wird noch in den fünfziger Jahren vorwiegend durch Handarbeit, ohne Dampfkraft, deshalb auch nur von gelernten Handwerksmeistern und Gesellen ohne eine Spur von Frauenarbeit betrieben. Im ganzen weist schon die Zersplitterung der Produktion auf ihren vorwiegend handwerksmäßigen Charakter hin, denn noch im Jahre 1857 sehen wir in Polen 12 542 „Fabriken“ mit 56 364 Arbeitern und 21 278 592 Rubel Produktionswert: im Durchschnitt 4-5 Arbeiter und 1 700 Rubel Produktion auf eine „Fabrik“.[1]

Den obigen Verhältnissen entsprechend, spielt auch die städtische Industrie in dem sozialen Leben Polens bis zu den fünfziger und sogar bis zu den sechziger Jahren nur eine untergeordnete Rolle. Tonangebend in der Ökonomik wie in der Politik des Landes blieb immer noch der Grundbesitz. Ja die breite Masse der mittleren Grundbesitzer, diejenige, welche zur Zeit die öffentliche Meinung darstellte, betrachtete sogar die aufkeimende städtische Industrie und mit ihr die kapitalistische Wirtschaft als eine ausländische giftige Pflanze, als einen „deutschen Schwindel“, der an der verzweifelten Lage des Grundbesitzes und des ganzen Landes die Schuld trage.

2. Der Übergang zur Großindustrie 1850–1870

Wir haben die ersten Anfänge und die Entwicklung der Industrie in Polen auf dem inneren Markte kennengelernt. Wir haben gesehen, daß sie ihre Entstehung den Bemühungen der Regierung verdankte und daß sie infolge des beschränkten inneren Marktes bis zu den fünfziger Jahren die Formen der Manufaktur nicht abzustreifen vermochte. Hier ist aber die erste Epoche ihrer Geschichte zu Ende, und es beginnt ein neues Blatt derselben. Seit den fünfziger Jahren tritt nämlich eine Reihe neuer Faktoren auf, die, obgleich an sich sehr verschieden, in letzter Linie doch alle bewirken, daß der polnischen Produktion die russischen Absatzmärkte erschlossen werden und damit ein Massenabsatz gesichert wird. Dies bringt allmählich eine völlige Umwälzung in der polnischen Industrie hervor und verwandelt sie aus einer Manufaktur in eine echte fabrikmäßige Großindustrie. Wir können deshalb die zweite Periode in ihrer Geschichte als die großindustrielle Periode bezeichnen. Die Jahrzehnte 1850–1870 bilden die Übergangszeit von der ersten in die zweite Phase.

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[1] W. Zalẹski, l. c., S. 172. [Fußnote im Original]