Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 651

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/651

Die französische Einigung

I

Leipzig, 18. Dezember

Die sozialistische Zersplitterung ist stets verhängnisvoll, die Einigkeit stets notwendig – dieser stehende Satz der sozialdemokratischen Auffassung könnte das soeben vollbrachte Einigungswerk der französischen Genossen[1] leicht als ein Zufallsereignis erscheinen lassen, das ebensogut vor zehn oder fünfzehn Jahren sich hätte zutragen können und müssen. Ein Blick auf die innere Lage der französischen Arbeiterbewegung und namentlich auf ihre Entwicklung muß dartun, daß auch in den Fragen der Einigkeit jedes Schablonisieren irreführt.

Als sich die französische Arbeiterbewegung nach dem furchtbaren Schlag, den ihr der Fall der Kommune versetzt hatte, Ende der 70er Jahre wieder aufzuraffen begann, stellte sie ein buntes Sammelsurium verschiedenartiger Elemente dar. Proudhonistische Genossenschaftler, Utopisten alter Schule (wie Malon, der Schöpfer des „integralen Sozialismus“), Anarchisten, beschränkte, von bürgerlichen Radikalen bevormundete Gewerkschaftler, Blanquisten, Kollektivisten, endlich zum reinen Radikalismus neigende ehemalige Kommunekämpfer – dieses bunte Gemisch aller Schulen und Programme – mit starker Vorherrschaft der genossenschaftlichen Selbsthilfe – war sozusagen der Urschleim, aus dem sich die späteren sozialistischen Organisationen herausbilden sollten. Der Prozeß, durch den dies bewerkstelligt werden konnte, war naturgemäß der der Differenzierung und der stufenweisen Ausscheidung heterogener Elemente. 1879, auf dem Kongreß zu Marseille[2], vollzieht sich in der Frage des sozia

Nächste Seite »



[1] Am 3. Dezember 1899 begann im Pariser Gymnasium Japy ein allgemeiner Kongreß aller sozialistischen Gruppen Frankreichs, der über die Beteiligung sozialdemokratischer Minister an bürgerlichen Regierungen beriet. Der Kongreß verurteilte den Ministerialismus, ließ aber gegen die Stimmen der Guesdisten Ausnahmeregelungen zu. Die einzelnen Gruppen einigten sich über bestimmte Maßnahmen, die zukünftige gemeinsame Aktionen ermöglichen sollten.

[2] Vom 20. bis 31. Oktober 1879 hatte in Marseille der Gründungskongreß der Französischen Arbeiterpartei stattgefunden, der einen Wendepunkt in der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung bedeutete. Die Gruppe um Jules Guesde, die auf dem Boden des Marxismus stand, siegte über die kleinbürgerlichen sozialistischen Strömungen.