Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 54

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werden. Aber „Rußland“ und „Zarismus“, der Staat und die Staatsform – das sind doch wohl verschiedene Dinge. Dieselben in der Diskussion zu verwechseln ist manchmal sehr praktisch, aber sehr unpraktisch im politischen Leben. Das russische und polnische Proletariat kann und wird den Zarismus abschaffen, es kann aber und wird nicht den russischen Staat als ein politisches Gebilde zerstückeln. Hier liegt eben der ganze Abgrund zwischen dem Kampfe um eine Konstitution und der Bestrebung zu der Wiederherstellung Polens, zwischen der Sozialdemokratie und dem Sozialpatriotismus. Wenn der hochgeschätzte Genosse glaubt durch die Verwechselung der Worte „russischer Zarismus“ und „Rußland“ das sozialpatriotische Programm zum sozialdemokratischen zu machen, so kann die Praxis ihn und seine Genossen für diese politische Tücke stets auf die Finger klopfen. Werden sie, statt den Zarismus, das Rußland als Ganzes mit dem Kopf anrennen, so fürchten wir, daß sie nur politische Beulen davontragen.

II

Der hochgeschätzte Genosse meint, daß das sozialpatriotische Programm sich mit der Tätigkeit der deutschen, österreichischen und russischen Sozialdemokratie in vollste Harmonie bringen läßt. In bezug auf die beiden ersten Fälle, auf Deutschland und Österreich, brauchen wir nicht viel zu unseren Ausführungen in Nr. 33 der „Neuen Zeit“ hinzuzufügen, da sie unbeantwortet blieben. Die Sozialpatrioten hoffen durch die „größtmöglichste Demokratisierung der beiden Kaiserreiche“ zu der Unabhängigkeit Polens zu gelangen. Wir haben nachgewiesen, daß die Demokratisierung. des Staates nicht zu dessen Zerstückelung – in Deutschland und Österreich –, gerade umgekehrt, zu dessen Befestigung führt. Entweder verzichten also die polnischen Sozialisten auf die Bestrebung, einen polnischen Klassenstaat zu errichten, oder sie werden ihn auf einem anderen Wege ob dem der Demokratisierung Deutschlands und Österreichs anstreben und dann notwendig in einen Widerspruch mit der gesamten sozialdemokratischen Bewegung geraten.

Ja, in dem Wesen des Sozialpatriotismus liegt die natürliche Tendenz, das Verhältnis der polnischen Bewegung zu der deutschen resp. der österreichischen auf etwas rein Äußerliches, Zufälliges, auf eine nicht prinzipielle, sondern reine Zweckmäßigkeitsfrage zu reduzieren. So schreiben die Freunde des hochgeschätzten Genossen in ihrem „Robotnik Jednodniówka“ 1895, daß in Galizien die Sozialisten mit der österreichischen Partei orga-

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