Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 53

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rechnen mit ihrer allgemeinen Richtung in jedem Lande und bekämpft gleichzeitig partielle Interessen der Bourgeoisie. Die allgemeine Richtung des polnischen Kapitalismus besteht in der immer festeren Verknüpfung mit Rußland. Will der hochgeschätzte Genosse mit seinen Freunden auf diese Richtung „pfeifen“ – wie er resolut erklärt –, dann haben wir große Besorgnis, daß die Tatsachen in Polen auf ihn mit seinem Programm der Wiederherstellung Polens pfeifen, wie schon die Ereignisse in Rußland auf die Grundlagen dieses Programms gellend zu pfeifen beginnen.

Der hochgeschätzte Genosse scheint überhaupt von der Existenz einer einzigen jeweiligen Richtung der sozialen Entwicklung in jedem Lande keine Ahnung zu haben. Er denkt sich im Gegenteil die Geschichte als ein dienstfertiges Ladenfräulein, das jedem nach seinem Belieben und Geschmack das Gewünschte aus der ganzen Masse der guten Dinge auskramt, und die Sozialisten dürfen wohl das beste auserwählen, da sie ja mit dem Mandat des künftigen Herrn der Welt in den Laden kommen. Die Aufgabe der sozialistischen Partei wird dadurch freilich sehr vereinfacht. Man braucht sich vor allen Dingen nur hinzusetzen und für ein gegebenes Proletariat alle möglichen politischen Formen und Kombinationen zu ersinnen. Dann prüfe und vergleiche man aufs sorgfältigste alle miteinander, man wähle – wenn man ein wahrer Freund der Arbeiterklasse ist – das allerbeste, ohne sich um die vorhandenen geschichtlich gegebenen Staatsgrenzen zu kümmern – und das Gericht ist fertig. Eine solche geistige Arbeit hat den hochgeschätzten Genossen mit seinen Freunden zu der Überzeugung gebracht, daß eine polnische Republik viel besser dem Proletariat bekommen werde als eine russische Konstitution. Die Sicherheit von der republikanischen Form des unabhängigen Polens schöpfen sie aus der literarischen Tatsache, daß der sel. Stanislaus Poniatowski, der letzte polnische Monarch, als Hagestolz und kinderlos gestorben ist. Sie haben vergessen, daß Bulgarien und Griechenland ebenfalls keine Dynastie und keine monarchischen Traditionen hatten. Die Hauptsache ist: Wo nehmen wir die Mittel her, um dieses allerbeste Programm einer allerdemokratischsten Republik zu verwirklichen? Der hochgeschätzte Genosse hat sich die Antwort sehr leicht gemacht: wir seien ja selbst der Meinung, „daß Rußland eigentlich keine Kräfte mehr besitzt, daß es nur eines Fingerstoßes bedarf, um umgeworfen zu werden“. Nein, der Meinung sind wir nicht, und wir haben sie auch nicht ausgesprochen. Wohl haben wir gesagt, der Zarismus müsse früher oder später „wie ein Hühnerstall vom Erdbeben“[1] weggefegt

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[1] Karl Marx: Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 8. Berlin 1960, S. 414.