Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 94

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Von Stufe zu Stufe. Zur Geschichte der bürgerlichen Klassen in Polen

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Zur Geschichte der bürgerlichen Klassen in Polen

Mehrere Wochen sind seit dem Zarenbesuch[2]l in Warschau verstrichen, und immer noch haben sich die Wellen der Aufregung in der polnischen und russischen Presse nicht gelegt. „Ein historischer Wendepunkt“, „eine neue Epoche“, „ein neues Blatt in der Geschichte Polens“, in solchen Ausrufungen ergehen sich Organe aller Schattierungen über die Zarentage in Warschau. Am größten ist die Bestürzung im kleinbürgerlich-nationalistischen Lager – man fühlt, daß in Polen wichtige Dinge vorgehen, und steht ihnen ganz ratlos und kopflos gegenüber. Auf den ersten Blick erscheint der Lärm auch wirklich unbegreiflich. Was ist geschehen? Schlägt etwa das brutale russische Regime in Polen einen neuen Kurs ein? Die letzten Russifizierungsdekrete geben die ausreichende Antwort darauf. Bedeutet etwa die Loyalität des bürgerlichen Polens die „neue Epoche“? Die Warschauer Deputierten zur letzten Zarenkrönung verweisen uns mit Entrüstung auf ihre unvergeßlichen Taten. Und doch auch diesmal: vox populi – vox Dei.

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[1] Wir stehen nicht ganz auf dem Standpunkt der Verfasserin und schätzen die Lebenskraft der polnischen Nation höher ein als sie. Den Gegensatz unseres zu ihrem Standpunkt haben wir bereits im 14. Jahrgang, 2. Band der „Neuen Zeit“ im Artikel „Finis Poloniae?“ (S. 484ff., 513ff.) auseinandergesetzt. Aber es scheint uns unleugbar, daß die Grundlagen des nationalen Gedankens in Polen in einer völligen Verschiebung begriffen sind und daß die traditionelle nationale Politik sich dort überlebt hat. Und wie immer man über den Standpunkt des Frl. Luxemburg auch denken mag, zur Beachtung und zum Verständnis dieses Prozesses können ihre Arbeiten jedenfalls sehr viel beitragen.

Es ist selbstverständlich, daß die „Neue Zeit“ auch Artikel veröffentlicht, die nicht die Ansichten ihrer Redaktion vertreten, und daß sie jedem ihrer Mitarbeiter die volle Freiheit seiner Meinungsäußerung wahrt, sofern diese nur Hand und Fuß hat und geeignet ist, unsere Sache zu fördern. Wir hielten es nicht für notwendig, dies hier wieder einmal besonders zu betonen, wenn nicht manche unserer polnischen Freunde in nationalen Angelegenheiten sehr empfindlich wären, was bei Angehörigen einer unterdrückten, um ihre Existenz kämpfenden Nation allerdings nur zu begreiflich ist. Die Red. [Fußnote im Original]

[2] Am 30. August 1897 war der russische Zar Nikolaus II. zu Manövern nach Warschau gereist.