Aus Posen
[1]I
„Wenn es schlecht geht, ruft man den Juden“, sagt ein polnisches Sprichwort. Die junge posensche Volkspartei[2] hat mit ihrem Kandidaten Andrzejewski eine Schlappe erlitten, und nun macht sie folgende Meditationen in ihrem Organ „Orędownik“: Es handelt sich darum, daß wir auf Grund der diesjährigen Wahlen begreifen: daß wir bei den Wahlen immer mehr mit dem polnischen Arbeiter zu rechnen haben werden, daß das Verhalten dieses Arbeiters bei den Wahlen von seiner sozialen Lage abhängt, daß die sozialen Verhältnisse nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch der anderen, namentlich der Klasse der Großgrundbesitzer, sich so gestalten, daß wir, um unsere Nationalität zu retten, ihre Verteidigung auch auf die breiten Massen der polnischen Arbeiterschaft abwälzen müssen. Ohne die Hilfe der polnischen Arbeiter gibt es kaum noch für uns eine Aussicht. Zu diesem für sie traurigen Schlusse kommt die kleinbürgerliche Polenpartei in Posen gleich nach ihrem ersten politischen Waffengang; sie hat sich also vor einigen Jahren mit so großem Lärm organisiert, um gleich nach der ersten Kraftprobe ihre Aufgaben „auf die Arbeitermassen abzuwälzen“. Die Arbeitermassen werden aber hoffentlich auch in Posen, wenn sie sich einmal rege an politischen Kämpfen beteiligen, Besseres zu tun haben, als der politischen Totgeburt des Kleinbürgertums frisches Leben einzuflößen. Das ahnen auch teilweise die bedauernswerten „Volksparteiler“ selbst. „Ob eine größere Beteiligung des polnischen Arbeiters unsere Nationalität
[1] Die Notiz I ist nicht gezeichnet. Aus einem Brief Rosa Luxemburgs vom 6. Juli 1898 an Leo Jogiches geht hervor, daß sie die Verfasserin ist. (Siehe GB, Bd. 1, S. 169.)
[2] In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Posen unter Leitung Roman Szymańskis gebildete klerikal-nationalistische Partei der Kleinbourgeoisie, die der sozialistischen Bewegung feindlich gegenüberstand.