Nach dem Siege
Leipzig, 25. November
Die totgeborene Zuchthausvorlage[1] ist in aller Eile verscharrt worden, und die deutsche Arbeiterschaft kann erleichtert aufatmen. Es war ein voller, ein glänzender Sieg, und im Augenblick kommt es nur darauf an, diesen Sieg möglichst intensiv auszunutzen. Daß die Sozialdemokratie jetzt nicht auf den Lorbeeren in angenehmen Betrachtungen über das Vollbrachte ausruht, dafür sorgen zur Genüge unsere Widersacher selbst, die mit dem Verzweiflungsleichtsinn eines Bankrotteurs von einer Niederlage zur anderen mit toller Hast jagen. Die bevorstehende Flottenvorlage[2] sorgt dafür, daß es unserer Agitation nicht an reichlichstem Stoff mangelt und daß das angefachte Kampffeuer der Volksmassen erhalten wird. Allein, in unserem Interesse liegt es, in der Agitation nicht völlig den Ereignissen nachzujagen und, dem Kurse der „obersten Stelle“ folgend, von Gegenstand zu Gegenstand zu eilen, sondern vielmehr jeder Schlacht und besonders jeder gewonnenen Schlacht einen möglichst dauerhaften, in die Tiefe gehenden Nutzen abzugewinnen suchen. Die begrabene Zuchthausvorlage eignet sich dazu in ganz vorzüglicher Weise, und zwar müssen die dauernden Früchte der Agitation in diesem Falle auf dem gewerkschaftlichen Gebiete erzielt werden.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß seit der Ara Tessendorf[3] die deutschen Gewerkschaften noch nie von der herrschenden Politik so bedroht
[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.
[2] Am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juni 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte zur Verwirklichung imperialistischer Expansionspolitik.
[3] Hermann Tessendorf war von 1873 bis 1879 Erster Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht und wurde als Organisator der Sozialistenverfolgungen berüchtigt. Seit 1886 war er Oberreichsanwalt in Leipzig.