Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 752

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Bilanz der Obstruktion

Die Debatten über die Lex Heinze[1] im Reichstag sind unerwarteterweise zu einem denkwürdigen Ereignis sowohl in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus wie der deutschen Sozialdemokratie geworden: Sie gaben unserer Partei den Anlaß, zum ersten Male die schon längst in Belgien, Italien, Österreich bekannte Obstruktion anzuwenden.

Als ein Versuch der parlamentarischen Minderheit, unter Benutzung der parlamentarischen Rechte die Mehrheit an ihren Beschlüssen zu verhindern, also den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus selbst zu bekämpfen, die außerparlamentarische Mehrheit gegen die parlamentarische im Parlament zur Geltung zu bringen, bildet die Obstruktion dem Wesen nach ein Bindeglied und eine Übergangsform zwischen parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampfe.

Dieser zwieschlächtige Charakter der Obstruktion äußert sich auch darin, daß sie stets nur bei kräftiger Unterstützung von „der Straße“ möglich ist, ob diese sich in Zeitungskundgebungen von Professoren, Massenversammlungen der Intelligenz und der Arbeiter oder in Straßentumulten der Volksmenge äußert.

Weil aber die Obstruktion schon eine Vereinigung des Kampfes inner- und außerhalb des Parlaments, eine Einführung des außerparlamentarischen Druckes in das Parlament hinein darstellt, so ist sie auch die letzte und äußerste Form des parlamentarischen Kampfes. Schärfere Waffen zur Verteidigung der Volksmehrheit im Parlament als die Obstruktion besitzt eine Minderheit von Volksvertretern nicht. Es stellt sich deshalb, nachdem nun diese schärfste und letzte Waffe von unseren Vertretern im Reichstag zum ersten Male ins Treffen geführt worden ist, von selbst die Frage ein:

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[1] Ein Prozeß gegen den Zuhälter Heinze von 1892 hatte im Jahre 1900 die Änderung und Ergänzung von Strafvorschriften des Strafgesetzbuches für Sittlichkeitsverbrecher zur Folge. Die wichtigsten Bestimmungen, die sogenannten Theater- und Kunstparagraphen, wurden von der Sozialdemokratie zu Fall gebracht, da sie eine freie Betätigung der Kunst, Literatur und Wissenschaft behindern sollten.