Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 753

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Welches war die Situation, die unsere Parlamentarier zum Äußersten getrieben, welches das Interesse, um das es sich gehandelt hat?

Wenn wir das unmittelbare Objekt des letzten Obstruktionskampfes in Betracht ziehen, so springt jedenfalls sofort in die Augen, daß es sich sehr von den Ursachen der sozialistischen Obstruktion in Belgien, Österreich, Italien unterscheidet. Während hier fundamentale politische Rechte des Volkes: das Wahlrecht, Vereins- und Versammlungsrecht, Preßfreiheit oder, wie in Wien, fundamentale Rechte der Volksvertretung auf dem Spiele standen, war der Anlaß zu unserer Obstruktionskampagne in einigen für die Kunstfreiheit gefährlichen Gesetzesparagraphen gegeben.

Freilich ist die Sozialdemokratie als Hüterin und Vorkämpferin der geistigen Kultur vor allen anderen berufen, auch die Kunstfreiheit mit allem Nachdruck zu verteidigen. Daß aber die Kunstparagraphen der Lex Heinze die höchste Gefahr für die Entwicklungsinteressen des Volkes darstellten und somit die Anwendung der letzten Waffen zur Abwehr rechtfertigten, wird niemand zu behaupten wagen. Tausendfach mehr als durch den Schaufenster- und Theaterparagraphen war die geistige Kultur Deutschlands durch das Sozialistengesetz, durch die Umsturzvorlage, die Zuchthausvorlage[1], ist sie noch durch den Brotwucher, den Militarismus und die Weltpolitik bedroht.

Ja noch mehr. All die aufgezählten Gefahren waren und sind höchst reell und unzweifelhaft, von faustdicker Greifbarkeit, die Kulturgefahr der Lex Heinze dagegen war, wie jedermann sehr gut weiß, mehr eine formale als eine wirkliche. Auch heute schon besitzen Polizei und Gerichte vollauf die gesetzliche Ellenbogenfreiheit, um die Kunst zu vermuckern und in reaktionäre Fesseln zu schlagen. Wenn sie sich dabei nicht weiter, als es geschieht, voranwagen, so ist daran einzig und allein die öffentliche Meinung mit ihrem strafenden Hohngelächter schuld, die sie im Zaume hält. An dieser Sachlage – in der Praxis – hätten ein paar neue Paragraphen so gut wie nichts geändert.

Als Ursache zum Aufgebot der letzten parlamentarischen Reserven erscheint also die Lex Heinze sehr wenig geeignet. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß die breiten Volkskreise uns schlechtweg nicht verstehen würden, wenn wir uns wegen dieser nur formalen Gefahr für die Kunstfreiheit so erregt hätten, während wir bei der Zuchthausvorlage nicht Miene machten, zur Obstruktion zu greifen, und z. B. auch den Raub des Wahlrechts in Sachsen ruhig – nur mit den üblichen Protestreden im Landtag – hingenommen haben.

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.