Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 754

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Unter gewöhnlichen Umständen und wenn es sich bloß um die Lex Heinze als solche gehandelt hätte, wäre auch die Obstruktion der Sozialdemokratie ein Unding gewesen. Soll sie uns verständlich und gerechtfertigt erscheinen, dann müssen wir, von dem unmittelbaren Objekt absehend, die politische Situation im ganzen ins Auge fassen und, kurz gesagt, den Kampf um die Lex Heinze bloß als eine Kraftprobe der Sozialdemokratie mit dem Zentrum auffassen.

Allerdings eignet sich die Lex Heinze als solche auch dazu sehr wenig, den politischen Gegensatz zwischen unserer Partei und dem Zentrum, zwischen den fortschrittlichen Volksinteressen und den reaktionären Bestrebungen der Katholikenpartei am erschöpfendsten und sinnfälligsten zu verkörpern. Ein Zusammenstoß aus Anlaß der vom Zentrum durch die Annahme der Flottenvorlage[1] inaugurierten Ära der aggressiven Weltpolitik in Deutschland wäre z. B. an sich von viel größerer politischer Tragweite und agitatorischer Wirkung gewesen. Allein, es war nicht unsere Partei, die aus freien Stücken den Moment gewählt hat, sondern das Zentrum, das auch für sich zum Teile unerwartet – darin lag ja das Eigentümliche der Situation – die Durchsetzung der Lex Heinze zu einer „Ehrensache“ für sich und die Lex somit zur Kraftprobe erhoben hat.

Wenn schon die Ergebnisse der Reichstagswahl von 1898 dem Zentrum das zahlenmäßige Übergewicht[2] und die entscheidende Rolle im Reichstag gesichert hatten, so sollte doch erst in der gegenwärtigen Session seine Herrschaft in aller Form zur offiziell konstatierten Tatsache werden. Dazu gab die famose Flottenvorlage Anlaß, die zuerst eine Frage von höchster nationaler und internationaler Bedeutung, die Frage nach dem Charakter der inneren und auswärtigen Politik Deutschlands in der nächsten Zukunft von dem Jawort des Zentrums abhängig machte. Anderseits sollte die Annahme der Flottenvorlage auch in der Geschichte des Zentrums selbst einen wichtigen Wendepunkt bilden, von dem an die ehemalige demokratische Oppositionspartei die Schwenkung zur reaktionären Regierungspartei endgültig durchmachte.

Diese Schwenkung, die bereits in der Budgetkommission vollzogen war, sollte aber im Reichstag gleichzeitig durch eine sinnfällige Inaugurierung der Herrschaft des Zentrums ergänzt werden. Gerade weil sie in der Flottenfrage den grandiosen Umfall vollbracht hatte, bedurfte die katholische

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[1] Am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juni 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte zur Verwirklichung imperialistischer Expansionspolitik.

[2] Bei den Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 hatte das Zentrum bei 18,8 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen 102 Abgeordnete ins Parlament gebracht, die Sozialdemokratie bei 27,1 Prozent der Stimmen nur 56 Abgeordnete, während die Konservativen bei nur 11,1 Prozent der Stimmen ebenfalls 56 Abgeordnetensitze erhielten.