Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 755

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Partei dringend sowohl zur eigenen Befriedigung wie zur Köderung der mehr oder weniger widerspenstigen Anhängerschaft draußen im Lande einer eklatanten Bestätigung ihrer Machtstellung in Deutschland. Die Lex Heinze, deren praktische Belanglosigkeit dem Zentrum ebenso klar war wie seinen Gegnern, eignete sich dazu vorzüglich. Gerade weil politisch und praktisch nichtig, sollte die berüchtigte Lex bloß ein „moralischer“ Sieg, ein Symbol der Zentrumsallmacht werden.

Auf diese Weise bekamen die an sich untergeordneten „Kunstparagraphen“ kraft der besonderen Situation einen hohen politischen Wert. Waren die Kulturgefahren dieser Paragraphen imaginär, so bedeutete die Allmacht des Zentrums in Deutschland, die mit diesen Paragraphen inauguriert werden sollte, eine durchaus nicht imaginäre Größe. Und war das Aufgebot äußerster Mittel seitens der Sozialdemokratie zur Abwehr einer minimalen Gefahr für die Kunstfreiheit unverständlich, so erscheint der Verzweiflungskampf plötzlich in einem ganz anderen Lichte, wenn wir hinter den papiernen Fesseln für die Kunst die eisernen Fesseln für das politische und wirtschaftliche Wohl der Volksmasse: den Wassermilitarismus, die Weltpolitik, den Brotwucher, lauern sehen, wenn wir, mit einem Worte, die Lex Heinze bloß als die Losung auffassen, unter der die Generalschlacht gegen die allgemeine Politik des Zentrums als Regierungspartei geschlagen wurde.

Es besteht in dieser Hinsicht eine gewisse Analogie im Kleinen zwischen unserer Obstruktionskampagne und dem jüngsten großen Kampfe der französischen Sozialisten – gleichfalls gegen die zur Herrschaft strebende Partei des Weihwedels. Auch hier wurde die an sich weder für das Klasseninteresse des Proletariats noch für die Gesellschaft im ganzen wichtige Affäre des Hauptmanns Dreyfus[1] zur Kraftprobe des Sozialismus und der Demokratie im Kampfe gegen die vereinigten Reaktionsmächte. Und es war auch hier der richtige revolutionäre Instinkt der französischen Sozialisten, der sie hinter der unscheinbaren Losung der Dreyfus-Affäre den Schlachtruf der militaristischen Reaktion erkennen und den Kampf mit allen Mitteln aufnehmen ließ.

Die gekennzeichnete politische Bedeutung der Debatten über die Lex Heinze bestätigten bereits vollkommen die Folgeerscheinungen ihres Ausgangs. Sie haben nämlich bewiesen, daß das Zentrum noch nicht so nahe am Gipfel seiner ehrgeizigen Herrschaftspläne in Deutschland angelangt ist, wie es selbst und mit ihm viele andere wähnten. Und zwar je geringfügiger an sich der Fall, in den man seine ganze Ehre gesetzt, um so emp-

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[1] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.