Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 102

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interessieren. Von der Kulturträgerei der bürgerlichen Intelligenz ist bloß das nackte Strebertum übriggeblieben. Die ganze symbolische Sprache, mit der man die Dinge zu verschleiern suchte, wurde auf die Seite gelegt. Die Fabrik ist heute nur Fabrik und nicht mehr „Wohltätigkeitsanstalt für arme Mitbürger“. Der Arzt heißt Arzt und nicht mehr „Fahnenträger des Fortschritts“. Und der Bauer heißt heute Kanaille und nicht mehr „Bäuerlein“. Der ganze Elan der Bourgeoisie der siebziger Jahre, die noch etwas anzustreben hatte – die Umbildung der Gesellschaft nach ihrem eigenen Bilde –, ist spurlos verschwunden in der Bourgeoisie der neunziger, die ihr großes Schöpfungswerk vollbracht hat und nun ihren siebenten Tag der Ruhe genießt.

Auch die Bourgeoisie der westeuropäischen Länder ist so ziemlich überall auf den Hund gekommen. Durch die Löcher ihrer politischen Ideale pfeift der Wind ein Lied von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Aber sie hat gewaltige Kämpfe hinter sich und kann von der Vergangenheit zehren. Die polnische Bourgeoisie war in der glücklichen Lage, die Kämpfe in Polen dem fremden Eroberer überlassen und selbst nur „irdischen Gütern“ nachgehen zu können. Die Zeit der „organischen Arbeit“, das war die einzige kurze Periode, wo sie so etwas wie eine Ideologie aufgestellt hat. Aber auch diese war nicht die Ideologie einer aufstrebenden Klasse, die sich zum Heldenmut in ihren Kämpfen anfeuert, sondern einer herrschenden Klasse, welche sich selbst und die Gesellschaft über die niederträchtigen Konsequenzen ihres Sieges hinwegtäuschen muß. Nachdem die letzte Illusion verschwunden, gleicht das geistige Leben der besitzenden Klassen in Polen „dem Liede eines triumphierenden Schweines“. Und dies war das Niveau, auf welches das bürgerliche Polen erst herabsinken mußte, damit eine Szene wie der Zarenempfang vom 1. September in den Mauern Warschaus stattfinden konnte.

III

Mit der Annahme des harmlosen Programms der „organischen Arbeit“ hat die polnische Gesellschaft ihre Seele dem Teufel verschrieben. Die erwartete „Wiedergeburt“ Polens hat sich als die trivialste kapitalistische Auferstehung entpuppt, die vorbereitende Aktion zur polnischen Unabhängigkeit auf die einfachste politische Abstinenz reduziert. Und jetzt, wo die Gesellschaft schon ihre Verwandlung vollendet zu haben schien, erklärt ihr erst mit einem verschmitzten Lächeln der Teufel, d. h. die Bour-

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