Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 700

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Um die Beute

Leipzig, 29. März

Die Protestbewegung gegen das Fleischbeschaugesetz[1], zu der sich die industriellen und kaufmännischen Kreise aufgerafft haben, entlockt den Agrariern ergötzliche Drohungen. Es war freilich kein Geheimnis auch ohnedies, daß das ganze schutzzöllnerische System[2], das Ende der siebziger Jahre über Deutschland hereingebrochen ist, nichts als ein auf gegenseitigen Dienstleistungen beruhendes Kartell der Agrarier und der Großindustriellen zur solidarischen Aushungerung der breiten Volksmassen darstellt.

Solange kein solches Kartell bestand, d. h., solange die Agrarier in einem solchen keinen Nutzen für sich erblickten, erfreute sich Deutschland einer Ära des Freihandels, trotzdem die Eisenindustriellen im Nordwesten und die Baumwollindustriellen im Süden seit Jahrzehnten schutzzöllnerische Appetite hatten. Ende 1878 gelang es aber Bismarck, die beiden edlen Brüder, den notleidenden Agrarier und den notleidenden Schlotjunker, zusammenzuführen, und seitdem begann auch für das Volk die Not der systematischen Schröpfung von beiden Seiten.

Nun wird aber dem industriellen Teilhaber der Firma zur solidarischen Auspowerung des Volkes das Geschäft etwas unvorteilhaft. Er sieht bei dem Fleischschaugesetz, daß er bei der Teilung der Beute zu kurz kommt und durch den Bruder Agrarier übers Ohr gehauen wird. Er wird bockbeinig, er schreit: Das ist wider die Abrede, Bruder Notleidender, vergiß nicht, daß das Kartell auf Gegenseitigkeit beruht! Ziehst du zu stark an

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[1] Im Frühjahr 1900 hatten im Reichstag Debatten über das Schlachtvieh- und Fleischbeschaugesetz stattgefunden. Die Großagrarier forderten im Interesse des Profits, nicht aus gesundheitlichen Erwägungen heraus, Schutzbestimmungen für die Einfuhr von ausländischem Fleisch. Deshalb lehnten sie auch den Untersuchungszwang für Hausschlachtungen ab.

[2] Siebe S. 672, Fußnote 1.