Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 395

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4. Zollpolitik und Militarismus

Die zweite Voraussetzung der allmählichen Einführung des Sozialismus bei Ed. Bernstein ist die Entwicklung des Staates zur Gesellschaft. Es ist dies bereits zum Gemeinplatz geworden, daß der heutige Staat ein Klassenstaat ist. Indes müßte unseres Erachtens auch dieser Satz, wie alles, was auf die kapitalistische Gesellschaft Bezug hat, nicht in einer starren, absoluten Gültigkeit, sondern in der fließenden Entwicklung aufgefaßt werden.

Mit dem politischen Sieg der Bourgeoisie ist der Staat zum kapitalistischen Staat geworden. Freilich, die kapitalistische Entwicklung selbst verändert die Natur des Staates wesentlich, indem sie die Sphäre seiner Wirkung immer mehr erweitert, ihm immer neue Funktionen zuweist, namentlich in bezug auf das ökonomische Leben, seine Einmischung und Kontrolle darüber immer notwendiger macht. Insofern bereitet sich allmählich die künftige Verschmelzung des Staates mit der Gesellschaft vor, sozusagen der Rückfall der Funktionen des Staates an die Gesellschaft. Nach dieser Richtung hin kann man auch von einer Entwicklung des kapitalistischen Staates zur Gesellschaft sprechen, und in diesem Sinne zweifellos sagt Marx, der Arbeiterschutz sei die erste bewußte Einmischung „der Gesellschaft“ in ihren sozialen Lebensprozeß, ein Satz, auf den sich Bernstein beruft.

Aber auf der anderen Seite vollzieht sich im Wesen des Staates durch dieselbe kapitalistische Entwicklung eine andere Wandlung. Zunächst ist der heutige Staat – die[1] Organisation der herrschenden Kapitalistenklasse. Wenn er im Interesse der gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Funktionen von allgemeinem Interesse übernimmt, so nur, weil und insofern diese Interessen und die gesellschaftliche Entwicklung mit den Interessen der herrschenden Klasse im allgemeinen zusammenfallen. Der Arbeiterschutz z. B. liegt ebensosehr im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten als Klasse wie der Gesellschaft im ganzen. Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten Höhepunkt erreicht, dann fangen an die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die der ökonomischen Evolution[2] auch im kapitalistischen Sinne auseinanderzugehen. Wir glauben, daß diese Phase bereits herangebrochen ist, und dies äußerst sich in den zwei wichtigsten Erscheinungen des heutigen sozialen Lebens: in

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[1] 2. Auflage: eine.

[2] 2. Auflage: die des ökonomischen Fortschritts.