Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 497

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Die „bayerischen Verhältnisse“

I

Leipzig, 6. September

Die „Fränkische Tagespost“ vom 1. September zitiert die Stelle meines Vortrags in Leipzig vom 29. v. M., wo ich mich über die bayerischen Landtagswahlen geäußert habe[1], und fügt hinzu:

„Frau Dr. Luxemburg scheint sich, nach diesen Worten zu schließen, in einer so glücklichen Unkenntnis der bayerischen Verhältnisse zu befinden, daß ihr Urteil durchaus belanglos wird. Beweis: Der Gebrauch der Ausdrücke ‚Wahlbündnis‘, ‚verholfen‘, ‚Zünglein an der Waage‘. Wir haben deshalb keine Veranlassung, die bayerische Taktik gegen diese Angriffe zu verteidigen.“

Man ist in der Partei bereits seit Jahren daran gewöhnt, sobald irgendein neues Meisterstück der bayerischen staatsmännischen Parteipolitik zur Sprache kommt, auf die Besonderheiten der bayerischen Verhältnisse hingewiesen zu werden, die zweierlei mit sich bringen, erstens, daß, was sonst in der Welt weiß ist, in Bayern unbedingt schwarz erscheint und umgekehrt, und zweitens, daß deshalb kein Mensch, der nicht in Bayern geboren oder wenigstens seit einigen Jahren dort ansässig ist, sich eine begründete Meinung über die bayerische Taktik bilden kann.

Diese allgemeinen Sätze sind freilich im Laufe der Jahre in der Partei arg in Mißkredit geraten. Am meisten ist aber gerade der jetzt erörterte Fall der bayerischen Landtagswahlen geeignet, die Mythe von den „bayerischen Besonderheiten“ zu zerstören. Ebendeshalb ist es von Interesse, die Frage gerade von dieser Seite zu prüfen.

Was vor allem an dem letzten Vorgehen der bayerischen Genossen überrascht, ist das glänzende praktische Ergebnis. Man hat durch Abmachung

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[1] Rosa Luxemburg hatte in diesem Vortrag die Taktik der bayrischen Reformisten scharf verurteilt, die mit dem reaktionären Zentrum ein Wahlbündnis eingegangen waren.