Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 609

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V

Leipzig, 17. November

Wenn irgend etwas die bisherige Auffassung unserer Partei von dem Gang der kapitalistischen Entwicklung, wie sie in dem Programm dargelegt ist, glänzend bestätigt hat, so ist es die Geschichte der Hamburger Gewerkschaftsbewegung.

Die wirtschaftliche Geschichte der Hamburger Arbeiterschaft in den letzten dreißig Jahren genügt allein, um in krassester Weise die Grundgesetze der Kapitalsherrschaft in ihrer Einwirkung auf das Proletariat klarzulegen. Es ist die ihr innewohnende naturwüchsige Tendenz der kapitalistischen Entwicklung, die materielle Lage der Arbeiterschaft immer tiefer und tiefer herabzudrücken. Und zwar geschieht dies in zweifacher Weise: einmal durch relative Verschlechterung der Lage des Arbeiters, im Vergleich einerseits zu der steigenden Produktivität seiner Arbeit, andererseits zu dem steigenden Kultur- und Lebensniveau der Gesellschaft; zweitens aber äußert sich diese herabdrückende Tendenz in der direkten, absoluten Verschlechterung der Lebenshaltung der Arbeiterschaft, in der Verringerung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Intensivierung der Arbeit, die nach sich wieder Vergrößerung der Sterblichkeit, der Kränklichkeit, physische und geistige Entartung zieht, kurzum in der sog. Verelendung der Arbeitermasse. Diese Verelendung ist nicht eine sozialistische Erfindung oder ein „überwundener Standpunkt“, wie die bürgerlichen Ökonomen verkünden, sondern eine faustdicke Tatsache, die allen Bewunderern und Verteidigern der herrlichen bestehenden Ordnung geradezu ins Gesicht schlägt. Würden die Arbeiter keine Gegenaktion organisieren und ließen sie der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft freien Lauf, sie würde sie und die ganze Gesellschaft über kurz oder lang in die Zustände der Barbarei zurückversetzen. Von sich aus, sich selbst überlassen, bietet die kapitalistische Wirtschaft dem arbeitenden Volk nur wachsendes Elend, wachsende Entartung, sie führt es nur hinab, unermüdlich, unaufhörlich, mit beschleunigtem Tempo. Und sich wieder emporheben, sich der herabdrückenden Tendenz des Kapitalismus widersetzen kann das Proletariat nur durch seine bewußte Abwehr, durch den organisierten Kampf, durch die Koalition.

Die Gewerkschaftsbewegung ist zwar nicht in der Lage, wie ihr von Optimisten in und außerhalb der Partei angedichtet wird, den Arbeiter „zum Herrn in der Werkstatt“ und den Unternehmer zu ihrem bloßen „Verwalter“ zu machen; angesichts gerade der Lehren der Hamburger Gewerkschaften erscheint diese Vorstellung als ein am grünen Tisch ohne

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