Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 610

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die geringste Rücksicht auf die harte Wirklichkeit ausgehecktes Hirngespinst. Die Gewerkschaftsbewegung ist desgleichen nicht in der Lage, den Arbeitern einen Einfluß auf den Umfang der Produktion oder auf ihre Technik zu verschaffen; der einzige Fall in der Geschichte der Hamburger Gewerkschaften, wo die Einmischung der Arbeiter in die technische Seite des Arbeitsprozesses die Ursache des Konflikts war, legte bezeichnenderweise ebenso den naturgemäß reaktionären Charakter solcher Bestrebungen wie auch ihre Aussichtslosigkeit klar.[1] Die Gewerkschaftsbewegung ist endlich nicht in der Lage, die Tendenz der relativen Verelendung der Arbeiterschaft aufzuheben, d. h., den wachsenden Abstand zwischen dem Anteil des Arbeiters am gesellschaftlichen Reichtum und der Produktivität seiner Arbeit, zwischen seinem Anteil und dem Anteil der bürgerlichen Klassen zu überbrücken. Diese Seite der kapitalistischen Wirtschaft bleibt so lange bestehen, wie diese Wirtschaft selbst bestehen bleibt, und sie ist gerade die revolutionierende, aufstachelnde Kraft in der Lage des Arbeiters, die ihn, sobald er sie in allen ihren Zusammenhängen begriffen hat, zum Sozialdemokraten, zum künftigen Totengräber des Kapitalismus macht.

Aber die Gewerkschaften können und vollziehen anderes und Gewaltigeres: Sie kämpfen vor allem gegen die absolute Verelendung der Arbeiterklasse; der herabdrückenden Tendenz des Kapitalismus gegenüber bringen sie die emporhebende zur Geltung und richten den vom Kapital niedergedrückten Arbeiter materiell und geistig wieder auf. Sie leiten den aktiven Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Wirtschaft ein und bereiten allmählich, durch wirtschaftliche und geistige Hebung des Arbeiters, durch organisatorische Zusammenfassung, den materiellen Boden für den sozialistischen Befreiungskampf des Proletariats.

Von diesem Standpunkte erscheint erst das Attentat auf das Koalitionsrecht der Arbeiter, die Zuchthausvorlage, in ihrem wahren Lichte.

Formell soll bloß der „Arbeitswillige“, der Streikbrecher, vor „dem Terrorismus“ der Arbeitervereinigung geschützt werden.

Aber die bisherige Geschichte der deutschen Gewerkschaften – siehe insbesondere die hamburgischen – zeigt, daß bis jetzt umgekehrt die Koalitionen von den Streikbrechern terrorisiert wurden, daß die meisten bisherigen verlorenen Lohnkämpfe nicht etwa durch Mangel an Geld, durch Mangel an Ausdauer bei den Kämpfenden, sondern einfach durch Mangel

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[1] Es war dies die Auflehnung der zünftigen Schiffszimmerer im Jahre 1881 gegen die mit dem Eisenschiffsbau eingeführte Arbeitsteilung, wobei sich die Gewerkschaft der Schiffsbauer gegen die Schiffszimmerer erklärte. [Fußnote im Original]