Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 63

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die ganze moderne Arbeiterbewegung sei das Werk einiger sozialdemokratischer Hetzer. Freilich geht die Auflösung der Türkei nicht schlechtweg aus eigener Kraft vor sich hin. Freilich verrichteten bei der Geburt Griechenlands, Serbiens, Bulgariens die zarten Hände russischer Kosaken Hebammendienste, und der russische Rubel ist ständiger Regisseur in dem historischen Drama am Schwarzen Meer. Die Diplomatie tut hier aber nichts anderes, als ein brennendes Holzscheit in einen Zündstoff zu werfen, den Jahrhunderte von Unrecht und Ausbeutung zu Bergen aufgehäuft.

Womit wir es hier zu tun haben, ist ein geschichtlicher, mit Naturnotwendigkeit sich ergebender Prozeß. Die Unmöglichkeit des Fortbestandes archaischer Wirtschaftsformen in der Türkei angesichts des Fiskalsystems und der Geldwirtschaft und die Unmöglichkeit der Entwicklung der Geldwirtschaft zum Kapitalismus, das ist der Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge auf der Balkanhalbinsel. Die Grundlage der bestehenden türkischen Despotie wird untergraben. Die Grundlage ihrer Entwicklung zum modernen Staat wird aber nicht geschaffen. Sie muß daher untergehen, nicht als Regierungsform, sondern als Staat, nicht durch den Klassenkampf, sondern durch Nationalitätenkampf. Und was hier geschaffen wird, ist nicht eine regenerierte Türkei, sondern eine Reihe neuer Staaten, aus dem Leibe der Türkei geschnitten.

Dies die Situation. Nun haben wir zu erörtern, wie sich die Sozialdemokratie den türkischen Vorgängen gegenüber zu stellen hat.

III Die Stellungnahme der Sozialdemokratie

Welche kann nun die Stellung der Sozialdemokratie den Ereignissen in der Türkei gegenüber sein? Prinzipiell steht die Sozialdemokratie immer auf der Seite der freiheitlichen Bestrebungen. Die christlichen Nationen, gegebenenfalls die Armenier, wollen sich von dem Joch der türkischen Herrschaft befreien, und die Sozialdemokratie muß sich rückhaltlos für ihre Sache erklären.

Freilich darf in der auswärtigen Politik ebensowenig wie in der inneren schablonisiert werden. Nicht immer ist der nationale Kampf die entsprechende Form für den freiheitlichen Kampf. Anders gestaltet sich z. B. die nationale Frage in Polen, Elsaß-Lothringen oder Böhmen. In allen diesen Fällen haben wir einen direkt entgegengesetzten Prozeß der kapitalistischen Assimilierung der annektierten Länder mit dem herrschenden

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